1. Mai: Tag der Arbeit oder Tag des Nebenjobs?

Die klassischen 1. Mai-Demonstrationen bekommen Konkurrenz vom Euromayday, dem Treffpunkt des Prekariats. Die taz sprach mit Alter und Neuer Schule.

Ritualisierter Feiertag oder politisches Kampffeld? Bild: dpa

"Wir fordern gesetzliche Mindestlöhne"

Frau Ziegert, Ihr Bundesvorsitzender Michael Sommer spricht morgen auf der DGB-Maikundgebung in Bremen. Wird er, mitten in der Krise, wieder etwas über "soziale Unruhen" sagen?

Helga Ziegert: Er wird sicher wieder etwas dazu sagen. Auch ich werde beim "Mahl der Arbeit" in der Rathaushalle darauf hinweisen, dass es in der Tat soziale Unruhen geben wird, wenn die Unternehmer so weitermachen.

Der Tag der Arbeit wurde in Deutschland 1919 eingeführt. Der DGB ruft an diesem Tag traditionell zu Kundgebungen auf.

Die zentrale Kundgebung ist morgen zum ersten Mal seit 1994 wieder in Bremen. Hauptredner ist der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, das Motto lautet "Arbeit für alle bei fairem Lohn".

Bremen: 10.30 Uhr, Osterdeich/Sielwall; später Fest auf dem Domshof

Hamburg: 11 Uhr, Besenbinderhof; Abschlusskundgebung beim "Museum der Arbeit"

Der "Euromayday" hat erstmals 2001 den "San Precario", den Schutzheiligen der Prekarisierten, durch die Straßen Mailands getragen. Die Paraden wollen zu Sozialprotest gegen zunehmende soziale Unsicherheit aufrufen.

Aus dem Umfeld des Euromayday sind in Deutschland die "Umsonst"-Bewegung und die "Überflüssigen" entstanden, die etwa durch kollektives Schwarzfahren oder Hausbesuche bei Hartz IV-Kontrolleuren bekannt wurden.

Paraden gibt es dieses Jahr in 20 europäischen Städten, davon drei in Deutschland.

Hamburg: 14 Uhr Michel; Ende beim "Hafenklang"

Bremen: 13 Uhr, Domshof; später Fest in der Buchtstrasse

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HELGA ZIEGERT, 63

gelernte Lehrerin, ist Bremer SPD-Abgeordnete und ist Regionalvorsitzende des DGB Bremen-Bremerhaven

LEA VOIGT, 23

Jurastudentin in Bremen, ist bei "Avanti - Undogmatische Linke" und hat den Bremer Euromayday mit vorbereitet

Womit weitermachen?

Viele Firmen in Bremen sind von der Krise betroffen. Becks etwa hat Probleme, weil Inbev sich mit Anheuser Busch verspekuliert hat. Das geht auf Kosten der Beschäftigten. In der Autoindustrie und den Häfen - einst waren das Globalisierungsgewinner - sieht es wegen der Krise schlecht aus. Vielen Beschäftigten droht der Verlust ihrer Jobs und Hartz IV.

Und die erheben sich dann? Wie in Frankreich?

Ob es so weit kommt wie in Frankreich, wo die Arbeitnehmer die Manager in den Schrank sperren, weiß ich nicht. Aber wenn die Unternehmer weiterhin meinen, die Arbeitnehmer müssten für die Krise zahlen und es Massenentlassungen gibt, dann wird das sicherlich nicht ruhig bleiben. Dafür werden wir dann auch sorgen.

Die Branchen, die Sie genannt haben, zählen zur klassischen Industrie. Doch nicht jeder hat einen Job dieser Art, und deswegen bekommen sie jetzt Konkurrenz: Die "Euromayday"-Bewegung tritt an, weil die Gewerkschaften die neuen, prekären Beschäftigungsverhältnisse vernachlässigen würden.

Als ich den Aufruf gelesen habe, habe ich mir schon gedacht, dass sich die taz dafür interessiert. Ich finde den Vorwurf nicht berechtigt. In der Tat gibt es immer weniger Beschäftigte in gewerkschaftlich gut organisierten Betrieben. Der Bereich prekär Beschäftigter ohne gesetzliche Absicherung, etwa bei Discountern oder Callcentern, nimmt dafür zu. Wir nehmen uns zunehmend auch dieser Gruppierungen an.

Wie denn?

Wir haben auf unserer Website Angebote für Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, es gibt viele Anlaufstellen für LeiharbeiterInnen. Außerdem haben wir ein Netzwerk für Beschäftigte in Callcentern gegründet und fordern gesetzliche Mindestlöhne. Es ist keineswegs so, dass Tarifverhandlungen nur für Stahlwerker oder Autobauer geführt würden. Aber es ist objektiv schwierig, in Betrieben mit prekären Beschäftigungsverhältnissen einen Streik zu organisieren. In Fällen wie etwa Lidl sind auch die Verbraucher gefordert, unsere Aufgabe ist da die Öffentlichkeitsarbeit.

Kann es sein, dass die linke Euromayday-Bewegung mit ihren unkonventionellen Protestformen solchen Arbeitgebern wirksamer zu Leibe rücken kann als Sie?

Wir werden an dem gemessen, was wir auf die Beine bringen. Wir können auch mit unkonventionellen Protestformen aufwarten. Aber bei uns wird mehr erwartet als bei diesen freien Gruppen. Wenn die so etwas machen, dann wird das öffentlich beachtet und die Leute finden das gut. Aber letztlich müssen die unkonventionellen Protestformen auch zu einem greifbaren Ergebnis führen. Und das ist der Maßstab.

Was wäre denn ein greifbares Ergebnis?

Nur eine gesetzliche Regelung oder ein Tarifvertrag. Es läuft also wieder auf ein durchaus konventionelles Ziel hinaus.

Also haben Sie keine politische Konkurrenz?

Die Ziele haben wir gemeinsam, und deswegen steht diese Bewegung auch nicht im Gegensatz zu uns. Auf Dauer wird das zusammen gehen.

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"Reguläre Arbeitskämpfe reichen nicht"

Was machen die Gewerkschaften falsch, dass es einen Euromayday braucht?

Lea Voigt: Die Gewerkschaften orientieren sich überwiegend am Normalarbeitsverhältnis. Das gab es aber noch niemals für alle. Migranten oder Frauen zum Beispiel fallen da seit jeher heraus. Und heute finden sich immer mehr Menschen in prekären Lebenslagen wieder - zum Beispiel im Niedriglohnsektor, als Hartz IV-Empfänger, in der Zeitarbeit oder als Papierloser.

Das sind ganz schön unterschiedliche Dinge.

Wir gehen auch nicht davon aus, dass es so etwas wie "das Prekariat" gibt. Trotzdem wollen wir diese Dinge zusammenbringen. Deswegen sprechen auf unserer Demo auch eine Stadtteilarbeiterin und ein nigerianischer Migrant, der nach einem Arbeitsunfall aus seinem Zeitarbeitsjob rausgeflogen ist. Selbst organisierter Widerstand findet bei den Gewerkschaften kaum statt. Und genau den wollen wir anstoßen, sichtbar machen und zuspitzen.

Wie wollen Sie denn die erreichen, die schon die Angebote der Gewerkschaften nicht wahrnehmen?

Wir haben eine ganz andere Herangehensweise. Wir wollen Erwerbslose und prekär Beschäftigte vernetzen, die selber etwas auf die Beine stellen wollen. Wir wollen zeigen, dass Widerstand sich lohnt. Die Gewerkschaften dagegen begreifen sich eher als Servicedienstleister…

und sagen, ihre Angebote für prekär Beschäftigte tragen den neuen Bedingungen sehr wohl Rechnung.

Es ist schön, wenn sich die Gewerkschaften da langsam öffnen. Die Frage ist aber: Welche Form von Widerstand ist in solchen neuen, deregulierten Arbeitsverhältnissen angebracht?

Nämlich welche?

Ritualisierte Arbeitskämpfe, wie die Gewerkschaften sie führen, jedenfalls nicht. Die halten die politischen Spielregeln ein und laufen deshalb ins Leere. Wir verstehen Arbeitskämpfe als politische Konflikte. Das erweitert den Spielraum auf politische Streiks, Besetzungen, Blockaden…

oder Bossnapping?

Vorherbestimmen, wie Widerstand sich entwickelt, können und wollen wir nicht. Wir wollen versuchen, bestimmte außerparlamentarische Protestformen in die betrieblichen Auseinandersetzungen einzubringen. Ob die Gewerkschaften die Bereitschaft mitbringen, die politischen Spielregeln zu übertreten, liegt an denen. Wir jedenfalls halten das für nötig.

Der DGB offenbar auch. Dessen Bundesvorsitzender Michael Sommer spricht dieses Jahr in Bremen - und soll, wie letzte Woche, auch etwas zu "drohenden sozialen Unruhen" sagen.

Unsere Demo ist auch extra so gelegt, dass sich die DGB-DemonstrantInnen diese Reden zu Ende anhören und dann mit uns vom Domshof losgehen können. Für die Gewerkschaften ist es die Gretchenfrage, ob sie Motor oder Bremse solcher Auseinandersetzungen sind. Es muss gelingen, aus den festgefahrenen, ritualisierten arbeitsrechtlichen Feldern ein politisches Kampffeld zu machen. Reguläre Arbeitskämpfe reichen nicht aus.

Die Gewerkschaften sehen sich als Verteidiger des Sozialstaats. Sie auch?

Unser Verhältnis zum Sozialstaat hat mit dem Prekarisierungsbegriff zu tun. Materielle, soziale Verunsicherung war schon immer eine tragende Säule des Kapitalismus. Der Sozialstaat als Regime hat diese Funktion miterfüllt. Deswegen ist ein Zurück zum alten Sozialstaat keine Perspektive. Trotzdem gibt es natürlich innerhalb der kapitalistischen Welt Veränderungen, wie etwa den Sozialabbau, gegen die man sich ganz konkret zur Wehr setzen muss.

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