Die Illusion von Freiwilligkeit

UMDENKEN Vor 30 Jahren propagierte er Sex zwischen Erwachsenen und Kindern. Heute sieht Graf von Lüttichau ein: Wir lagen daneben

Er studiert die Kopie aus dem Archiv. Diesen Leserbrief hat er also geschrieben, im Januar 1983. Eine Rüge für die taz-Redaktion, die trotz ausführlicher Aufklärung weiter „die ewiggleichen einseitigen Darstellungen von Pädophilie“ abdrucke: Dabei liege doch in pädophilen Beziehungen „die Chance, Solidarität zwischen den Altersgruppen wachsen zu lassen, lebendige, relevante Lebenserfahrung auszutauschen“. Gezeichnet „W. Mondrian Graf v. Lüttichau, Kinderfrühling Heidelberg“.

Damals war Lüttichau Anfang 30, hatte seinen offiziellen Vornamen Wolfgang durch Mondrian ersetzt und die Initiative „Kinderfrühling“ mitbegründet, eine Abspaltung der „Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie“. Der gelernte Buchhändler war den Grünen beigetreten. Er stand mit der Nürnberger „Indianerkommune“ in Kontakt, die radikalen Konsumverzicht und freien Sex zwischen Kindern und Erwachsenen propagierte. Heute lebt Lüttichau in Leipzig, betreibt eine Internetseite mit Informationen für psychisch Traumatisierte und will erklären, warum er früher für die Legalisierung sexueller Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen eintrat – und das inzwischen für falsch hält.

Lüttichau hat alte Rundbriefe der „Indianer“ auf seinem Wohnzimmertisch ausgebreitet, Flugblätter, auch die mit Knabenfotos illustrierte Zeitschrift des „Heidelberger Kinderfrühlings“. Als junger Mann habe er sich mit seinen Eltern überworfen, erzählt er. Er habe unter seelischen Problemen gelitten und Schwierigkeiten mit seiner Sexualität gehabt. „Ich hatte Entwicklungsrückschritte. Die ersten Gefühle zwischenmenschlicher Nähe habe ich gegenüber Kindern empfunden.“ Er sucht nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was damals war. „Ich wollte nicht mit Kindern ins Bett.“ Sein Verhalten sei auch nie strafrechtlich relevant gewesen – aber es gebe ja nicht nur Schwarz und Weiß, sondern Graustufen.

Die radikalen Thesen der Indianer seien damals für ihn ein „Schock im positiven Sinne“ gewesen. Eine Zeit lang habe er in seiner Wohnung junge Ausreißer aus der Indianerkommune aufgenommen und auch mal die presserechtliche Verantwortung für Flugblätter der Indianer übernommen, aber selbst nie bei ihnen gelebt. Seine Kontakte zu den Ausreißern seien längst abgerissen.

Was genau den Minderjährigen widerfuhr, die in der Indianerkommune Zuflucht fanden, wisse er bis heute nicht. Wurden dort Kinder sexuell missbraucht? Lüttichau sagt: „Ausschließen kann ich das nicht. Aber das heißt nicht, dass ich davon ausgehe.“ In den 80er-Jahren sei in der breiten Öffentlichkeit noch nicht bekannt gewesen, was für ein Massenphänomen sexueller Missbrauch von Kindern ist, versichert Lüttichau. Er habe damals geglaubt, dass es in Erwachsenen-Kind-Beziehungen nicht mehr „böse“ Fälle gibt als zwischen Erwachsenen.

Der persönliche Wendepunkt kam für Lüttichau in den 90er-Jahren. Nach einem Sozialpädagogikstudium arbeitete er als Therapeut in einer Berliner Psychiatrie. Er traf dort Patienten, die als Kinder missbraucht worden waren. Diese Begegnungen ließen ihn umdenken. Er distanzierte sich von der Indianerkommune. Zu sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Kindern sagt er seither grundsätzlich Nein. Auch das Argument, die Beziehung sei doch einvernehmlich und gewaltfrei gewesen, das Kind habe es auch gewollt, lehnt er heute ab: „Weil das sofort zur Rechtfertigung für die Täter wird.“ ASTRID GEISLER