Kommentar Europäische Protestformen: Mit zivilem Ungehorsam zum Erfolg

Kalkulierte Gesetzesverletzungen haben ihren Schrecken verloren. Sie werden zunehmend als Protestform akzeptiert.

Seit der DGB-Vorsitzende Michael Sommer vor "sozialen Unruhen" als Folge von Massenentlassungen gewarnt hat, ist eine Diskussion entbrannt, deren Hauptkennzeichen die Selbstbeschwichtigung bildet. Die zeitweilige Festsetzung von Chefs wie in Frankreich, Betriebsbesetzungen wie in Großbritannien sind - so unsere Politiker - im Musterland der Sozialpartnerschaft und des politischen Konsenses undenkbar.

Diese Argumentation verschweigt, dass dem Sozialstaat ein Deal zugrunde liegt: sozialer Frieden gegen Existenzsicherung der LohnarbeiterInnen. Bei Massenentlassungen im großen Stil wird die Gültigkeit des Sozialvertrags prekär. Denn der "soziale Frieden" ist keine zweite Haut, deren sich die Lohnabhängigen nicht mehr entledigen könnten. Wie auch der Verzicht auf radikale Kampfformen nicht zu einer tief verwurzelten deutschen "Mentalität" gehört.

Natürlich setzen sich die Deutschen nicht umstandslos über das Strafrecht hinweg. Nur die Schwäche der französischen und britischen Gewerkschaften, heißt es jetzt in der Öffentlichkeit, ihr Mangel an Schlagkraft, mache die anarchischen Aktionen bei unseren Nachbarn möglich. Gewiss, die zentralisierte Verhandlungsmacht der deutschen Gewerkschaften ist größer, auch die disziplinierende Wirkung der Zentrale auf die Basis. Aber auch bei den Mitgliedern ist ein Mentalitätswandel bemerkbar, indem sie mehr autonome Entscheidungsfreiheit fordern.

Hinsichtlich der Kampfformen hat die kalkulierte Gesetzesverletzung ihren Schrecken verloren und wird zunehmend als ziviler Ungehorsam akzeptiert. Mit dieser Art Ungehorsam teilen die Kampfformen der britischen wie französischen ArbeiterInnen die Beachtung humaner Grenzen sowie vernünftige Forderungen. Ihre Aktionen werden zwar von Wütenden unternommen, sind aber nicht Ausdruck blinder Wut. Sie geben dieser Wut vielmehr eine Form, die Lösungen ermöglicht. Die Festsetzung der Chefs geht in voller Öffentlichkeit vor sich und wird von viel Sympathie begleitet, den Chefs selbst wird kein Haar gekrümmt. Schließlich: Positive Verhandlungsergebnisse folgen.

Jetzt heißt es, "soziale Unruhen" kämen stets den Rechtsradikalen zugute und gefährdeten die Demokratie. Das Gegenteil stimmt. Nur die kampflose Hinnahme von Massenarbeitslosigkeit und sozialer Demontage bereitet der Sehnsucht nach dem neuen Führer und damit dem Rechtsradikalismus den Boden.

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