Betr.: Rede von Václav Havel

„Am Anfang ist das Wort. – Das ist ein Wunder, dem wir zu verdanken haben, daß wir Menschen sind. – Doch zugleich ist es ein Hinterhalt, eine Prüfung, eine List und ein Test. – Größer vielleicht, als es Ihnen scheinen mag, die Sie unter den Bedingungen einer großen Freiheit des Wortes leben, also in Verhältnissen, in denen es scheinbar so sehr auf die Worte nicht ankommt.

Es kommt auf sie an.

Es kommt überall auf sie an.

Dasselbe Wort kann einmal demütig und ein anderes Mal hochmütig sein. Und außerordentlich leicht und sehr unauffällig kann sich ein demütiges Wort in ein hochmütiges verwandeln, während nur sehr schwer und langwierig sich ein hochmütiges Wort in ein demütiges wandelt. (…)

Diese Welt und vor allen Dingen Europa befindet sich gegen Ende des zweiten Jahrtausends nach Christi an einer besonderen Kreuzung: Lange gab es nicht so viele Gründe für die Hoffnung, daß alles gut ausgeht, und niemals gab es zugleich so viele Gründe für die Befürchtung, daß, wenn alles schlecht ausgehen sollte, dies die endgültige Katastrophe sei. Es ist nicht schwer, zu belegen, daß alle Hauptbedrohungen, denen die Welt heute entgegentreten muß, vom Atomkrieg über die ökologische Katastrophe bis zur sozial-zivilisatorischen Katastrophe (damit meine ich den sich vertiefenden Abgrund zwischen reichen und armen Einzelnen und Nationen), irgendwo in ihrem Inneren eine gemeinsame Ursache verborgen halten: die unauffällige Wandlung des ursprünglich demütigen Wortes in ein hochmütiges.

Hochmütig begann der Mensch zu glauben, er als Höhepunkt und Herr der Schöpfung verstehe die Natur vollständig und könne mit ihr machen, was er wolle.

Hochmütig begann er zu glauben, als Besitzer von Verstand sei er fähig, vollständig seine eigene Geschichte zu verstehen und sodann allen ein glückliches Leben zu planen, und dies gebe ihm sogar das Recht, jeden, dem die Pläne nicht gefallen, aus dem Weg zu wischen im Interesse einer angeblich besseren Zukunft aller, zu der er den einzigen und richtigen Schlüssel gefunden habe.

Hochmütig begann er von sich zu glauben, wenn er den Atomkern zertrümmern könne, sei er schon so vollkommen, daß ihm weder die Gefahr der atomaren Wettrüstung noch gar des Atomkriegs drohe. In all diesen Fallen hat er schicksalhaft geirrt. Das ist schlimm. Aber in all diesen Fällen beginnt er schon, seinen Fehler zu begreifen. Und das ist gut.

Von alldem belehrt, sollten wir alle und gemeinsam gegen die hochmütigen Worte kämpfen und aufmerksam nach den Kuckuckseiern des Hochmuts in scheinbar demütigen Worten forschen. Das ist ganz offenbar durchaus nicht nur eine linguistische Aufgabe. Als Aufruf zur Verantwortung für das Wort und gegenüber dem Wort ist dies eine wesenhaft sittliche Aufgabe.“

Václav Havel anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1989. Er selbst konnte die Rede nicht halten, daher wurde sie von Maximilian Schell vorgetragen.