Schuldiger oder Sündenbock?

Haarde war vor dem Crash einer der beliebtesten Politiker Islands

Ich freue mich, beweisen zu können, dass ich unschuldig bin. Der Prozess ist eine Schande – aber nicht für mich!“ Als Angeklagter hatte Geir Haarde das erste Wort, als in Reykjavik gestern der Prozess gegen den Exministerpräsidenten der Jahre 2006–2009 begann. Vor einem speziellen „Nationalgericht“ wird gegen den 60-Jährigen in den kommenden zwei Wochen eine nicht nur in Island einmalige Anklage verhandelt.

Auf der Basis einer in der Verfassung von 1905 verankerten, aber noch nie gebrauchten Bestimmung, werden ihm Vergehen im Amt vorgeworfen. Er habe grob fahrlässig versäumt, mit geeigneten Maßnahmen den Umfang des Finanzcrashs in Island 2008 zumindest abzumildern. Damals waren binnen weniger Tage die drei größten Banken zusammengebrochen und Island geriet an den Rand des Staatsbankrotts.

Haarde bestritt die Vorwürfe: Natürlich sei man im Nachhinein klüger, aber vor dem Crash habe weder seine Regierung noch Zentralbank oder Finanzaufsicht Anhaltspunkte dafür gehabt, es könne schlecht um die Banken stehen: „Niemand glaubte, der Zusammenbruch von Lehmann-Brothers könnte Auswirkungen auf Island haben.“

Die Anklage will dem ehemaligen Finanz- und Außenminister, der Wirtschafts- und Staatswissenschaften studierte und als ausgewiesener Finanzexperte galt, im Rahmen einer Beweisaufnahme mit rund 50 Zeugen das Gegenteil nachweisen: Tatsächlich habe seine Regierung mit der Deregulierung des Finanzmarkts, die dann zu den ebenso überdimensionierten wie labilen Banken geführt habe, den Karren sehenden Auges gegen die Wand gefahren.

Der fünffache Familienvater, Exvorsitzende der Konservativen und vor dem Crash einer der beliebtesten isländischen Politiker, sieht sich als Sündenbock. Der Prozess sei eine Rache der rot-grünen Regierung, mit der die an seiner damaligen Koalitionsregierung beteiligten Sozialdemokraten nun von eigenen Versäumnissen ablenken wollten. Island stelle sich mit diesem Verfahren auf eine Stufe mit der Ukraine, wo ebenfalls eine ehemalige Premierministerin wegen angeblicher Amtsvergehen im Gefängnis sitze. Ob Politiker richtig oder falsch gehandelt hätten – das Urteil solle man den Wählern überlassen.

Die hatten Haarde im Januar 2009 mit ihrer „Kochtopfrevolution“ aus dem Amt gejagt. Jetzt droht ihm eine Haftstrafe von bis zu 2 Jahren. REINHARD WOLFF