Özdemir spricht Machtwort zu Schwarz-Grün

GRÜNE Der bayerische Landeschef denkt zu laut über „grüne Eigenständigkeit“ nach – und bringt weite Teile der Partei gegen sich auf. Denn die weiß: Jede Hinwendung zur CDU kostet am Wahltag Stimmen

BERLIN taz | Im Grunde ist Cem Özdemir ein Mann mit sehr guten Manieren. Doch manchmal verliert auch der höfliche Grünen-Chef die Geduld. „Unserem bayerischen Landesvorsitzenden empfehle ich, sich um die anstehende Landtagswahl in Bayern zu kümmern“, kommentierte Özdemir am Dienstag gereizt einen Vorstoß aus Bayern. „Da gibt es wahrlich noch genug zu tun, womit er ausgelastet sein sollte.“

Der Anlass für das Machtwort waren Überlegungen Dieter Janeceks. Der 36-jährige Realo, der den südlichsten Landesverband der Grünen seit 2008 führt und ein Bundestagsmandat anstrebt, veröffentlichte am Morgen ein brisantes Thesenpapier im Internet. Arbeitstitel: „Lagerwahlkampf war gestern“. Die Grünen täten gut daran, den Blick über die sich aufzulösenden Lager hinaus zu richten, schreibt Janecek darin mit seinem Parteifreund Nikolaus Huss. „Wer jetzt noch auf das Lagerwahlkampfmodell setzt, reitet ein totes Pferd.“

An Themen wie der Energiewende deklinieren sie durch, dass politisches Lagerdenken überholt sei. Zwar betonen sie, dass die Grünen auf eine Koalition mit der SPD setzen müssten, machen sich dann aber Gedanken über einen in der Partei viel diskutierten Begriff, falls es für Rot-Grün nicht reicht – die grüne Eigenständigkeit. Das bedeute, dass die Grünen „nicht tatenlos und resigniert zusehen, wenn es nicht dafür langt. Sondern einer möglichen ‚großen‘ Koalition des Beharrens eine kleine Option der Veränderung entgegensetzen würden.“

Im Klartext: Die Grünen müssten, wenn sie ihre Inhalte durchkriegen, auch mit Angela Merkels CDU regieren. Janecek gehört zu einem Kreis von Reformern, die ähnlich denken, aber schweigen. Er machte aus seinen Überzeugungen kein Geheimnis, bereits vor einer Woche plädierte er in der taz für Offenheit.

Sein Thesenpapier bedeutet einen Frontalangriff auf die strategische Linie der Parteiführung. Jedes Antippen von Schwarz-Grün vertreibt Wähler, so die Analyse im Vorstand. Und den knappen Sieg in Niedersachsen interpretiert er als Beleg: Mit klarem Bekenntnis füreinander kann Rot-Grün gewinnen.

Entsprechend wütend fielen die Reaktionen in der Partei aus. „Das ist eine Gespensterdebatte“, sagte Daniel Köbler, Fraktionschef in Rheinland-Pfalz. „Würden wir Janeceks Weg folgen, verkämen die Grünen zur reinen Funktionspartei, also zur zweiten FDP.“ Nordrhein-Westfalens Landeschef Sven Lehmann sagte: „Das fällt in die Kategorie: Thesenpapiere, die die Welt nicht braucht.“ Natürlich würden die Grünen im Fall des Falles auch mit anderen Parteien reden als mit der SPD. Aber die Wähler könnten sich darauf verlassen, dass Grüne ihre Inhalte nicht verraten würden. „Genau das müssten wir in einer Koalition mit der Union aber tun.“ Özdemir betonte einmal mehr die offizielle Linie. Nach diversen Siegen von Rot-Grün in den Ländern wolle man dies im Bund wiederholen. „Das hat nichts mit Lagerdenken nichts zu tun, das ist einfache politische Vernunft.“

ULRICH SCHULTE