In der Kita Europas

STOLZ Die ungarische Demokratie sollte erwachsen werden. Stattdessen ist das Land in die Trotzphase zurückgefallen

■ wurde 1973 in Zalaegerszeg im Südwesten Ungarns geboren, hat in Budapest Germanistik und Übersetzung studiert und anschließend als freie Kulturjournalistin gearbeitet, unter anderem für das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Ungarn und das Magazin Elle. Sie lebt seit eineinhalb Jahren in Berlin, wo sie in Integrationskursen Deutsch unterrichtet und als freie Journalistin arbeitet.

VON AGNES SZABÓ

Ich habe unter meinen Freunden in Deutschland eine kleine Umfrage gemacht. Es ging um ihr Ungarnbild. Das Ergebnis: Für die meisten war Ungarn einmal Symbol und Synonym für Freiheit – es war das Land, in dem die Statik des Eisernen Vorhangs zuerst einstürzte. Die „Tagesschau“-Bilder der flüchtenden DDR-Bürger und das Aufschneiden des Grenzzauns bei Sopron und St. Margarethen durch Gyula Horn haben noch viele in Erinnerung.

Ungarn galt als offenes, als europafreundliches Land, in dem sich ein buntes Kulturleben abspielte, in dem die Menschen über Politik offen diskutierten, in dem man um jede Ecke mindestens eine Fremdsprache beherrschte. Eine Marke eben, die man nicht nur wegen der aus dem Piroschka-Film bekannten Gulasch-Romantik liebte.

Dieser Ruhm ging mit der Fidesz-Regierung verloren. Ungarn ist gerade der verlorene Sohn Europas, der noch auf der Suche ist. Und das enttäuscht gerade auch diejenigen, die das liberale Ungarn so geliebt haben.

Warum ist das Volk so still?

Um Ungarn zu retten, müsste man Ungarn umgarnen, ein wenig umarmen, dem Land das Gefühl geben, dass es in den schlechten Zeiten nicht auf sich allein gestellt ist und dass Europa trotz des Tiefflugs an seine Stärke und Größe glaubt. Gerade weil man Ungarn in der letzten Zeit schon so oft den Hosenboden stramm gezogen hat. Wenn sich Deutschland und Europa von Ungarn abwenden, würde das nur die Fidesz-Regierung darin bestärken, dass Deutschland und Europa Interesse an einem schwachen Ungarn haben.

Keine Frage, die Liste der Fehltritte ist lang. In der neuen Verfassung, die völkisch und ethnonationalistisch ist, wird die Volksgemeinschaft der Magyaren mystifiziert. In der Schule wird in Religionsbüchern Homosexualität als Sünde dargestellt. Die Medienfreiheit wird durch die Kontrolle der Medienbehörde eingeschränkt. Roma müssen für Sozialleistungen arbeiten, und für ihre Kinder gibt es gesonderte Schulen. Oder eben das letzte Ereignis, das Europa wieder Sorgen macht: Unser Parlamentspräsident, und enger Freund des Premiers, László Kövér, hat vergangene Woche einen Vorschlag gemacht: In Zukunft solle doch die Regierung dringende und wichtige Entscheidungen ohne eine Abstimmung im Parlament treffen. László Kövér kommt oft auf abgefahrene Ideen, im Jahre 2002 schlug er vor: „Jeder könne sich erhängen, der nicht mit unserer Politik einverstanden ist.“ Das war der Punkt, an dem meine damals 70-jährige Oma entschied, nicht die Fidesz-Partei zu wählen. László Kövér habe sie als Bürgerin zutiefst beleidigt, meinte sie. Für mich war das der Beweis dafür, dass Ungarn wirklich etwas gelernt hat. Wenn so ein Satz bei meiner Oma das Fass zum Überlaufen bringt, eine Frau, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren ist und keine Erfahrung mit Demokratie gemacht hat, gibt das Grund zur Zuversicht. Die Keimlinge der Demokratie können jederzeit gedeihen, egal welches Regime kommt. Sie sind nicht auszurotten. Man darf Ungarn nicht mit der Fidesz-Regierung und deren Amoklauf gleichsetzen.

Nur: Wenn diese Absurdität der ungarischen Politik einfach die Absurdität der Regierung und ihrer Gefolgsleute ist, bleibt die Frage, warum die Menschen, die nicht einverstanden sind, den Zustand Ungarns dulden, warum die oppositionellen Stimmen nicht lauter sind als die Hirngespinste der Fidesz-Parolen?

Leise zu sein bedeutet nicht immer Zustimmung. Vieles kann dahinterstecken, Weisheit, ein Abwarten oder Resignation und Angst. Bei Protesten in der ungarischen Geschichte hat man gelernt, dass die russischen Panzer stärker sind und man easy als Fischfutter in der Donau enden kann. Andererseits wissen die Menschen in Ungarn auch genau, dass sie gegen diese arrogante und machtsüchtige Regierungstruppe mit Demonstrationen nicht viel erreichen können. Dann holt die Regierung eben ihre rechtsradikalen, oft kriminellen Hooligans, die aussehen wie Arnold Schwarzenegger in „Terminator“ und die Demonstranten wegschleppen.

Meine persönliche Erklärung dafür, warum Ungarn so ist, wie es momentan ist, habe ich in einem Zitat von Péter Esterházy gefunden, das ich von ihm ungefähr vor zwanzig Jahren in einer Lesung gehört habe: „Wir trauten uns in der europäischen Geschichte schon, zu groß zu sein, sogar auch, zu klein zu sein, aber das Problem besteht darin, dass wir keine Ahnung davon haben, wie groß wir in Wirklichkeit sind.“ Kürzer und bündiger kann man das Problem nicht benennen, obwohl es damals noch harmlos war im Vergleich zu heute.

„Damals“ waren wir eine neugeborene Demokratie, ein Säugling auf Muttermilch, der heute zu einem starken und gesunden Erwachsenen hätte werden sollen, der kurz vor der Familiengründung steht. Aber wir sind in unsere Kita-Jahre, sogar ins Trotzalter zurückgefallen. Wir leiden unter einer Selbstbewusstseins- und Verhaltensstörung.

Muss Strafe sein?

Solange aber diese Leiche der Vergangenheit aus dem Keller oder dem Wohnzimmerschrank des Landes nicht beseitigt wird, werden wir immer wieder in der Kita Europas landen.

Die Fidesz-Partei wurde 2010 von vielen mit der Hoffnung gewählt, dass sie eine neue Politik beginnt, Tabula rasa macht, die korrupten Geschäfte der Kommunisten und Sozialisten ein für alle Mal aufarbeitet, damit sie nie wiederholt werden können.

Stattdessen haben sie mit einem anderen Teufel, dem Teufel des Nationalismus, einen Pakt geschlossen.

Im Moment gibt es in Ungarn fast drei Millionen unsichere Wähler, die keine Ahnung haben, wen sie wählen sollen. Zurzeit herrscht nämlich eine absolute Alternativlosigkeit: die Opposition, die Fidesz abwählen sollte, ist unglaubwürdig – und das ist ein großes Problem. Solange sie, die Sozialisten und die Partei Együtt 2014 des Exministerpräsidenten Gordon Bajnai, mit Fidesz-Rhetorik kommunizieren und ihr einziges Wahlversprechen eine Anti-Fidesz-Kampagne ist, werden sie niemanden überzeugen, dass sie nicht wieder eine Scheibe von der Macht und die Schlagsahne der Torte haben wollen.

Wenn das so bleibt, besteht die Gefahr, dass die Unsicheren einfach nicht wählen gehen, was den gleichen Effekt hat, als würden sie ihre Stimmen für Fidesz abgeben.

Aber das kann das Land nicht wollen, wenn es, wie es vor 25 Jahren entschieden hat, zu Europa gehören möchte. Denn Fidesz führt eine Anti-EU- und Anti-Westen-Kampagne. Und versucht gerade, die Bürger davon zu überzeugen, dass Brüssel das neue Moskau ist, das uns kolonialisieren und ausbeuten möchte, uns nicht versteht und sich von uns abwendet. Wobei wir tatsächlich diejenigen sind, die sich durch ihre Politik von den europäischen Werten abgewendet haben. Viktor Orbán behauptet, unser Freund zu sein, und versucht, alle anderen Länder in Europa als Feinde darzustellen. Mit seiner Politik zieht er jeden Tag am Bart des Löwen und kann kaum erwarten, dass der Löwe zubeißt.

Ich befürchte, dass Viktor Orbán auch vor dem siebten Artikel im EU-Vertrag nicht Halt macht. Dieser besagt, dass ein Mitgliedstaat der Europäischen Union suspendiert werden kann, wenn das Land die Grundwerte der EU schwerwiegend verletzt, also unter anderem Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte. Im Gegenzug könnte es dazu kommen, dass Ungarn mit einem Austritt aus der EU antwortet. Momentan ist das nicht möglich, nicht einmal mit einer Volksabstimmung, weil die Verfassung es verbietet. Aber ein Parlament mit Zweidrittelmehrheit kann die Verfassung, wie gesehen, jederzeit ändern – um nicht von einer Regierung zu sprechen, die das Parlament gar nicht erst befragen muss. Deshalb müssen die Worte von László Kövér sehr ernst genommen werden.

Und hiermit kommen wir zu unserer Größe, unserem Selbstbewusstsein und zu unserem falschen Stolz zurück. Bitte Vorsicht mit jeder Sanktion, mit Strafe und etlichen Schlägen! Damit wird nämlich bloß Viktor Orbán in seinem Feindbild Europa bestärkt.

Wenn aber stattdessen Europa daran erinnern könnte, warum es Ungarn schätzt, wo unsere Stärken liegen, könnte man besser zeigen, wo wir von diesen Werten abweichen: Ungarn ist eigentlich ein fröhliches, ein gastfreundliches Land – und das steht so sehr im Widerspruch zu dieser Feindlichkeit, die gerade zu spüren ist. Die EU sollte Ungarn auch daran erinnern, wohin Intoleranz, Antisemitismus und Antiziganismus führen können. Ungarn hat im Zweiten Weltkrieg an der Seite von Hitler gekämpft – aber es gibt bei uns nicht diese Vergangenheitsbewältigung wie in Deutschland.

Ich würde mir eine offene Diskussion wünschen, vielleicht eine Podiumsdiskussion zwischen Angela Merkel und Viktor Orbán, wo er eingeladen und nicht herausgefordert wird. Falls er sich trauen würde …

Und Europa sollte die richtigen Zeichen an uns, die ungarische Bevölkerung, senden. Betonen, wie bunt, toll und besonders wir sind und warum es falsch ist, wenn nationalistisch und ungarisch zu Synonymen werden. Es wäre dringend nötig, dass Ungarn sich auf die strahlende, liberale Marke besinnt, die das Land einst verkörpert hat. Bis es sich selbst eingedreckt hat.