Durch den Mythos gefiltert

ESSAY Das drängendste Problem in der Ukraine bestehe aus zwei negativen Mythen, die die Bevölkerung spalten, meint der Schriftsteller Igor Sid. Es geht um einen Bilderkrieg: „Faschisten“ gegen „Kehrschaufeln“

Aus irgendeinem Grund spricht man nicht darüber, dass selbst ukrainische Patrioten keine einheitliche Meinung in Bezug auf die Krim haben

VON IGOR SID

Viele von denen, die ich liebe und mit denen ich auf der Halbinsel aufgewachsen bin, feiern die russischen Streitkräfte auf der Krim. Und wie es scheint, ist die Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim von dieser Euphorie erfasst. Aus ihrem Blickwinkel bedeutet das Ereignis ein Stück mehr Harmonie, eine, die sie lange ersehnt haben. Man könnte nun sagen, hier zeigt sich wieder die russische Mentalität, die von imperialistischem Gehabe, Archaik und Paternalismus geprägt ist. Aber das wäre überheblich. Und man sollte nicht voreilig sein. Es lohnt sich, einen Blick auf die Vorgeschichte des Problems zu werfen.

Ich bin kein Politologe, sondern Anthropologe. Daher bediene ich mich für die Beschreibung der Lage des Begriffes „Mythos“. Darunter verstehe ich ein „Element des kollektiven Weltverständnisses“, „eine bestehende Vorstellung von irgendetwas“, unabhängig davon, ob diese Vorstellung der Wirklichkeit entspricht oder nicht. Das akute und drängendste Problem für die Krim und die Ukraine scheint mir in zwei negativen Mythen zu liegen, die sich extrem auseinanderentwickelt haben. Es sind zugleich dominierende Stimmungen unter den „westlichen“ und „östliche“ Bevölkerungsteilen, die Krim und Odessa eingeschlossen.

Vereinfacht könnte man es so formulieren: Die aus dem Osten halten die Westler für „Faschisten“, die aus dem Westen nennen die Ostler „Sowki“, eigentlich eine Abkürzung für „Homo sovieticus“, wörtlich aber „Kehrschaufel“. Und ich muss klarstellen: Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs kommt jedes dieser beiden Worte immer näher an das deutsche Wort „Untermensch“ heran. Diese gegenseitige Antipathie ist ein Ergebnis der Geschichte, Österreich-Ungarn dominierte den Westen, Russland den Osten. Aber man kann die Zweiteilung auch im Jetzt als Unversöhnlichkeit zweier Mentalitäten erklären, einer (post)imperialen und einer nationalen, die sich vor unseren Augen formiert. Die genauen Ursachen sind nicht so wichtig.

Die Stimmungen polarisieren sich immer mehr. Die Beteiligung am Euromaidan in Kiew von Aktivisten des antirussisch gestimmten Rechten Sektors und der Partei Swoboda ließen die Bewohner der Krim schlussfolgern, es ginge auf dem Maidan gar nicht um den Kampf um Gerechtigkeit. Das Chaos an Nachrichten wird immer zugunsten des „eigenen“ Mythos gefiltert. Es war voreilig und völlig unerklärlich, als die Maidan-Sieger dann noch das Sprachengesetz aufhoben. Es schütze wenigstens de jure die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung. Für die war damit das Bild des „nazistischen Putsches“ perfekt.

Die Businesselite

Der Mensch wird von einem Mythos stärker geleitet als von der Wirklichkeit. Und wenn er nicht den Mechanismus der Zweifel und Reflexionen in Gang setzt, wird der Mythos zur Wirklichkeit selbst. Seit 2008 habe ich in der ukrainischen Presse Appelle veröffentlicht, um nach einem realen Weltbild zu suchen. Ich hielt es für wichtig, den ukrainischsprachigen Lesern klarzumachen, dass die russischsprachige Bevölkerung keine „fünfte Kolonne Russlands“ ist und die russische Kultur der Ukraine auch kein Bastard Moskaus, sondern eine wichtige Ressource des Landes, die es zu schätzen und zu pflegen gilt. Je mehr die Zeit fortschritt, desto stärker entwickelte sich diese Überzeugung zur Illusion. Es gibt noch etwas, was man wissen muss, um den Traum der Krimbewohner von der Ankunft Russlands verstehen zu können.

1994, vor 20 Jahren also, fand ein durch seine Waghalsigkeit bestechender und durch seine blitzschnellen Erfolge beeindruckender Versuch statt, die Krim zu modernisieren. Jewgenij Saburow, ein markanter russischer Wirtschaftsökonom, der gleichzeitig auch ein Dichter und Denker war, wurde von dem rebellischen Präsidenten Juri Meschkow an die Spitze des Ministerkabinetts der Krim berufen. Saburow unterstützte die separatistischen Ambitionen Meschkows nicht, dafür machte er sich mit Eifer an die Vervollkommnung der Gesetzgebung sowie der Verwaltungsstruktur der Krim. „Die Krim wird bald zur Halbinsel-Schweiz werden“, hörte ich damals öfter aus der Businesselite. Kiew jedoch konnte offensichtlich mit der mächtig blühenden Krim wenig anfangen. Nach nur einem knappen Jahr wurden Saburow und Meschkow verdrängt. Der Wissenschaftler kehrte nach Moskau zurück. 2009 starb er.

Saburows Erfolge, die übrigens von seinen Nachfolgern schnell nivelliert wurden, jagten jemandem Schrecken ein. Von da an wurde die Krim den Ruf nicht mehr los, übermäßig selbstständig und unberechenbar zu sein. Das war der Ausgangspunkt für einen unterschwelligen und trotzdem ständig ausgeübten sozialpolitischen Druck, eine sanfte Politik der Derussifizierung und Ukrainisierung. In der Politik akzeptierten viele das Spiel. Bei einem bedeutenden Teil der Krimbevölkerung wuchs unterdessen aber eine Ukrainephobie, etwas, was es im Augenblick des Zerfalls der Sowjetunion nicht einmal in Ansätzen gegeben hatte.

Die kulturelle Schwächung der russischsprachigen Bevölkerung – gut möglich, dass diese Politik nur ein Führungsfehler war, ein dummes Missverständnis oder der Trägheit geschuldet. Sie war nicht aggressiv, dafür beständig, unter allen ukrainischen Präsidenten gleich. Und genau in dieser Politik und nicht in der „Hand Moskaus“, die offensichtlich spürbar, aber sehr lange kein bestimmender Faktor war, genau darin sehe ich den Grund der Proteststimmung auf der Halbinsel. Vielleicht bin ich kurzsichtig, ich kann dieser Politik aber beim besten Willen weder etwas Demokratisches noch etwas Europäisches abgewinnen.

Die nostalgische Sehnsucht nach der russischen imperialen Vergangenheit ist für die Krim nichts Neues. Sie war bereits in den ersten Jahren der Unabhängigkeit der Ukraine zu spüren. Die ethnische Politik Kiews war ein zusätzlicher Nährboden für solche Stimmungen. Ein frisches Gerücht vorige Woche, ukrainische Nationalisten würden drohen, einen sogenannten Freundschaftszug auf die Krim zu schicken, um die Ordnung wiederherzustellen, sorgte nicht gerade für Entspannung der explosiven Lage.

Und noch etwas. Aus irgendeinem Grund spricht man nicht darüber, dass selbst ukrainische Patrioten keine einheitliche Meinung in Bezug auf die Krim haben. Vor drei Jahren habe ich darauf hingewiesen, wie sehr der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch in seinen Ansichten den Ideologen des russischen Imperialismus ähnelt, was die Zukunft der Halbinsel angeht. Hier ein Zitat aus einem Interview mit Andruchowytsch von 2009: „[…] ohne Militäreinmischung Russlands wird hier nichts passieren. Diese aber scheint unvermeidbar zu sein. […] Die Lage wird kompliziert sein, aber wir werden daraus endlich als eine Nation herauskommen. […] Wir sollten uns bereits heute auf den Verlust der Krim vorbereiten.“

Für die Herausbildung einer Nation ist weder eine „komplizierte Lage“ noch das fast zwangsläufig darunter zu verstehende Blutvergießen nötig. Das ist eine schöne, aber auch sehr riskante Annahme. Denn aus ihr folgt, dass die Bevölkerung der Krim weiter so passiv-friedlich bleibt, wie sie sich heute größtenteils präsentiert. Was aber, wenn es in dem anstehenden Referndum zur Abspaltung kommt? Die Sicherheit der Menschen, die heute am Status quo hängen, kann dann zu einem ernsthaften Problem werden. Wie kann ein vielstimmiger Prozess garantiert werden, der zum Beispiel den Standpunkt der Krimtataren berücksichtigt?

Die russischsprachige Bevölkerung der Krim ist in größten Teilen von der Idee der „Wiedervereinigung mit Russland“ verzaubert. Das ist eine Tatsache, dafür gibt es mehrere unterschiedliche Gründe. Ob es zur Ernüchterung kommt und wann diese eintritt, ist allem Anschein nach eine Frage der weiten Zukunft.

Für mich wie für jeden anderen ist es am wichtigsten, dass die mir nahen Menschen diesseits und jenseits der Barrikaden, auf verschiedenen Seiten des Mythos leben und gesund bleiben. Ob sie je imstande sein werden, aufeinander zu hören und einander zu verstehen? Dies soll die allerschlimmste der Fragen bleiben, die uns bevorstehen.

■ Igor Sid (Sidorenko), 1963 in Dschankoj auf der Krim geboren, lebt seit 1995 in Moskau, ist Schriftsteller, Anthropologe, Kurator internationaler Kultur- und Forschungsprojekte, u. a. Gründer des Bosporus-Forums zeitgenössischer Kultur und des Geopoetischen Krim-Clubs Moskau und erkundet das moderne mythologische Bewusstsein