Die drastische Sitzung

KONJUNKTUR Die Zentralbank muss zu „unkonventionellen“ Mitteln greifen, denn die konventionellen Waffen sind abgefeuert. Börsen freuen sich schon

VON ULRIKE HERRMANN

Für professionelle Anleger gibt es momentan nur noch einen Fixpunkt: den 5. Juni. Wie an jedem ersten Donnerstag im Monat wird der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) seine geldpolitischen Entscheidungen treffen, und Zentralbankchef Mario Draghi bereitet die Finanzmärkte seit Wochen darauf vor, dass es auf dieser Juni-Sitzung zu drastischen Beschlüssen kommen könnte.

Die Anleger strömen an die Börsen, weil sie damit rechnen, dass die Europäische Zentralbank demnächst zu „unkonventionellen Maßnahmen“ greifen wird, um die Zinsen noch weiter nach unten zu drücken. Sobald aber daraufhin die Renditen von Anleihen sinken, werden die Dividenden der Aktiengesellschaften attraktiver.

Also will jeder Spekulant dabei sein, wenn die Kurse an den Börsen abgehen: Der DAX stieg am Freitag auf ein neues Rekordhoch von 9.970 Punkten.

Nach der Sitzung im Mai sagte Draghi, dass sich „der Zentralbankrat wohl dabei fühlt, beim nächsten Mal zu handeln“. Am Montag wiederholte er diese Aussage, als die EZB zu einer internationalen Konferenz ins portugiesische Sintra lud: „Wir werden uns nicht damit abfinden, wenn die Inflation zu lange zu niedrig bleibt.“

Die Inflationsrate im Euroraum betrug zuletzt nur noch 0,7 Prozent, und in den Krisenstaaten sinken viele Preise bereits. In Deutschland lag die Inflation zwar bei 1,3 Prozent. Aber auch dies war viel zu niedrig, denn die EZB steuert eine Inflationsrate von knapp 2 Prozent an.

Konsumenten freuen sich, wenn die Preise stabil bleiben oder gar sinken. Doch für die Gesamtwirtschaft ist es gefährlich, wenn die Waren tendenziell billiger werden. Viele Kunden verschieben dann ihre Käufe, weil sie hoffen, dass die Preise noch weiter fallen. Die Nachfrage sinkt, das Wachstum stockt.

Noch gefährlicher ist ein zweiter Mechanismus: In der Eurozone sind zahlreiche Staaten, Unternehmen und Privatleute überschuldet. Wenn Löhne und Preise tendenziell fallen, lassen sich deren Kredite nicht mehr zurückzahlen. Zudem wird niemand mehr investieren, wenn abzusehen ist, dass die Umsätze sinken.

Selbst die inflationsscheue Bundesbank gibt zu, dass ein Preisverfall verhindert werden muss. Etwas umständlich sagte ihr Chef Jens Weidmann in einem Interview: „Der EZB-Rat vertritt einstimmig die Absicht, innerhalb seines Mandats auch unkonventionelle Instrumente einzusetzen, um den Risiken einer zu lang anhaltenden Phase niedriger Inflation wirksam entgegenzutreten.“

Die Maßnahmen müssen „unkonventionell“ sein, weil die konventionellen Waffen einer Notenbank längst genutzt werden. So liegt der Leitzins bei nur noch 0,25 Prozent. Er wird fällig, wenn sich Banken bei der EZB kurzfristig Geld leihen. Der Leitzins könnte zwar auf 0,15 Prozent oder gar auf null sinken, aber dies wäre nur noch eine symbolische Maßnahme, um den Ernst der Lage zu markieren.

Daher macht eine andere Idee Furore: der „Negativzins“. Banken sollen bestraft werden, wenn sie Guthaben bei der EZB anhäufen, statt Kredite an die Wirtschaft zu vergeben. Im Gespräch ist ein Zins von minus 0,1 Prozent. Momentan liegt der Einlagenzins noch bei null.

Auch gegen diese Idee würde sich die Bundesbank nicht sperren, wie Weidmann signalisiert: Der Negativzins könnte „unter anderem den Geldmarkt zwischen den Banken beleben und damit auch die Kreditvergabe an Unternehmen anregen“.

Der Negativzins ist keine neue Idee. Dänemark hat im Juli 2012 einen Minuszins auf Guthaben bei der Zentralbank eingeführt und ihn erst vor Kurzem wieder abgeschafft. Allerdings hatten die Dänen nicht das Ziel, die Kreditvergabe anzukurbeln. Stattdessen wollten sie verhindern, dass ihre Krone gegenüber dem Euro zu stark aufwertet. Die Banken sollten ermuntert werden, aus der Krone zu fliehen und ihre Gelder im Ausland anzulegen.

Den Dänen ist es tatsächlich gelungen, die Aufwertung der Krone zu stoppen. Es ist jedoch unklar, ob dies dem Minuszins zu verdanken ist. Denn der Euro ist gegenüber allen Währungen gestiegen, nachdem Draghi ebenfalls im Juli 2012 versichert hatte, die EZB würde „alles“ tun, um den Euro zu retten.

Der starke Euro sorgt jedoch für neue Probleme: Der Kursanstieg verschärft die Deflation, die nun auch noch importiert wird. Denn die Einfuhren werden billiger, wenn der Euro zulegt, was aufs hiesige Preisniveau drückt.

Um die Inflation anzukurbeln, könnte die EZB als weitere „unkonventionelle“ Maßnahme beschließen, Geld ins System zu spülen, indem sie Staatsanleihen aufkauft und diese in Euros bezahlt. Dadurch würden nicht nur die Kreditzinsen sinken, sondern auch der Euro. Nach dem Motto: Wenn mehr Euros im Angebot sind, wird der einzelne Euro preiswerter im Vergleich zum Dollar oder zum Pfund. Die Einfuhren würden wieder teurer, und statt einer Deflation würde man die gewünschte Geldentwertung importieren.

Doch egal, wofür sich die EZB am 5. Juni entscheidet: Ihre Macht ist begrenzt. Sie kann zwar die Zinsen senken, aber sie kann keinen Unternehmer zwingen, Kredite aufzunehmen. Die Firmen werden jedoch nicht investieren, solange ihre Fabriken nicht ausgelastet sind und die Arbeitslosigkeit in fast allen Eurostaaten hoch ist. Die Wirtschaft wird weiter kriseln – und nur die Börsen boomen.