Nach Erdbeben in Haiti: Die Knochensägen stehen nicht still

Wegen der schwierigen medizinischen Versorgung ist der Wundbrand bei vielen Verletzten so weit fortgeschritten, dass Gliedmaßen amputiert werden müssen.

In einem improvisierten Krankenhaus in der Nähe von Port-au-Prince. Bild: reuters

Florence Burr-Reynaud arbeitet jeden Tag zehn Stunden im Hospital von Canapé Vert. Die Hals-, Nasen-, Ohren- und Augenspezialistin hat ihre Praxis in Petionville gegen den halboffenen Behandlungsraum am Rande der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince eingetauscht. Burr-Reynaud versorgt kleinere Verletzungen, zieht Fäden oder näht. Aber viele Verletzungen haben sich durch Infektionen zum Wundbrand verschlimmert, oft durch die lange Zeit der Verschüttung.

Im oberen Teil des Krankenhäuses nehmen sich französische Mediziner der Menschen auf den Bahren an, die mit einem roten Fähnchen markiert sind. Die Knochensägen stehen in Canapé Vert nicht still. "Mit jedem Tag steigt die Zahl der Amputationen", sagt Burr-Reynaud.

Im Armenhaus Lateinamerikas könnten in Zukunft auch die meisten Menschen mit Behinderung leben. Nach informellen Statistiken gibt es derzeit in Haiti rund 800.000 Menschen mit Bewegungseinschränkungen aufgrund fehlender Gliedmaßen. "Ich fürchte", sagt der ehemalige Gesundheitsminister Daniel Henrys, "die Zahl wird sich verdrei- oder sogar vervierfachen."

Zu den Amputierten kommen noch viele Querschnittsgelähmte. "Wir haben zahlreiche Beckenbrüche und Menschen, die aufgrund von Rückenmarksverletzungen ihre Bewegungsfähigkeit vollständig eingebüßt haben", berichtet Burr-Reynaud. Wie viele dies sind, kann keiner sagen. Noch immer versuchen die Organisationen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, sich einen statistischen Überblick über die Zahl der Menschen mit Behinderung zu verschaffen. Dabei rinnt die Zeit dahin.

"Effektive Rehabilitierung muss schon direkt nach der Amputation beginnen", sagt Dieter Müller, der Lateinamerikavertreter von medico international. Bereits die unmittelbare Wundbehandlung nach Abtrennen von Gliedmaßen entscheide über die spätere Anpassung von mechanischen Geh- und Greifhilfen. "Haiti braucht jetzt schon Therapeuten, die die Nachversorgung der Amputierten übernehmen." Die Muskulatur müsse gestärkt werden. Wenn dies nicht frühzeitig trainiert werde, würden Prothesen oft nicht helfen.

Aber wie soll Haiti die finanzielle Belastung tragen, die eine ordentliche Behandlung und damit, wie Müller sagt, das Menschenrecht auf eine Prothese garantiert? Rund 800 Euro kostet eines der Billigangebote für Unterschenkelersatz. Sollte die Zahl von rund 3 Millionen wirklich stimmen, dann werden auf Haiti Kosten von rund einer Viertelmilliarde Euro zukommen, damit sich die Amputierten wieder entsprechend bewegen können.

Besonders teuer werden die Mobilitätshilfen bei Kindern. Aufgrund des Wachstums müssen Prothesen ständig neu angepasst oder öfter ausgetauscht werden als bei Erwachsenen. Je nach Belastung und Verarbeitungsqualität sind die künstlichen Glieder bereits nach drei bis vier Jahren reif für die Abfallhalde. Lediglich die Gelenke können wiederverwendet werden.

"Wir werden auf die Erfahrungen mit Behinderungen aus anderen Ländern angewiesen sein, in denen es Landminen gibt, vor allem auf Organisationen, die dort gearbeitet haben", sagt Exgesundheitsminister Henrys. "Die Rehabilitation von Menschen mit Behinderung muss eine der Prioritäten der haitianischen Regierung in der Zukunft sein."

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