Hauptstadt der Aufstocker

ARBEIT Knapp 130.000 Berliner verdienen zu wenig, um davon leben zu können. Die Jobcenter sollen konsequenter gegen sittenwidrige Löhne vorgehen

In Berlin können 128.287 Menschen nicht von ihrer Arbeit leben und nehmen deshalb ihr Recht auf ergänzende Sozialleistungen wahr. Damit hat die Zahl der sogenannten Aufstocker in der Stadt innerhalb von fünf Jahren um beinahe 50 Prozent zugenommen: Anfang 2007 lag sie noch bei 87.000. Das geht aus der Antwort der Senatsverwaltung für Arbeit auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Sabine Bangert hervor.

Demnach ändert die positive Entwicklung der Wirtschaft und der Rückgang der Berliner Arbeitslosenquote auf zuletzt 12 Prozent im Juni nichts daran, dass viele Menschen in der Stadt ihren Lebensunterhalt nicht mit ihrer Arbeit bestreiten können. Die davon am stärksten betroffene Gruppe sind nicht etwa Minijobber mit 37.488 oder Selbstständige mit 21.669, sondern die regulär sozialversicherungspflichtig Beschäftigten: Knapp 56.000 von ihnen beziehen ergänzende Leistungen. Die allermeisten arbeiten in Dienstleistungsbereichen wie Gastgewerbe, Handel und Gesundheits- und Sozialwesen.

Berlin bleibt damit die „Hauptstadt erwerbstätiger Armer“, wie es in einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) heißt: Nirgendwo sonst in Deutschland ist der Anteil der Aufstocker an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten so hoch: Er lag Mitte 2011 bei 6,7 Prozent. Damit ist es noch ein weiter Weg bis zur Realisierung des von Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) ausgegebenen Ziels, Berlin zur „Hauptstadt der guten Arbeit“ zu entwickeln. Das von Kolat vorgelegte Programm „BerlinArbeit“ sieht unter anderem vor, im Bundesrat für die gleiche Bezahlung von Zeitarbeitern und normal Beschäftigen einzutreten und Schwarzarbeit zu bekämpfen. Außerdem will Kolat, dass die Jobcenter konsequent gegen Arbeitgeber vorgehen, die ihre Mitarbeiter sittenwidrig bezahlen.

Dies sei auch dringend nötig, sagte der Sprecher des DGB in Berlin und Brandenburg, Dieter Pienkny, der taz: „Warum sollen Steuerzahler Unternehmen subventionieren, die zu geizig sind, um vernünftige Löhne zu bezahlen?“ Es gäbe in Berlin weitaus mehr als die knapp 130.000 Menschen, die mit ihrer Arbeit zu wenig zum Leben verdienen. „Wir wissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass auf jeden Aufstocker mindestens ein Mensch kommt, der verschämt in Armut verharrt und sich nicht traut, die ihm zustehende staatliche Unterstützung zu beantragen“, so Pienkny.

Kritik an Senat und Arbeitsagentur übte die Grünen-Abgeordnete Bangert. Sie wollte mit ihrer Anfrage herausfinden, wie viele der über das Projekt „Joboffensive“ in Arbeit vermittelten Langzeitarbeitslosen heute ergänzende Leistungen beziehen. Dies sei statistisch nicht darstellbar, antworteten Senat und Arbeitsagentur. Bangerts Vermutung: Statt erwerbslose Menschen vernünftig zu qualifizieren, sodass sie perspektivisch unabhängig von Zuzahlungen sind, werden die Leute in schlecht bezahlte Arbeit gedrängt. SEBASTIAN PUSCHNER