Kurz vor dem Kollaps

SOZIALARBEIT Dienstleistungen müssen sich rechnen. Die Branche ist im Umbruch. Das trifft unter anderem Projekte für Alkoholiker

■ Was studiert man, um SozialarbeiterIn zu werden? Soziologie und Sozialwissenschaften sind gleich raus, das sind rein wissenschaftliche Studiengänge. Vor ein paar Jahren konnte man noch an der FU Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpädagogik studieren und damit etwa in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten.

■ Seit der Umstellung auf Bachelor und Master wurde der Lehrstuhl zusammengeschrumpft, es gibt nur noch einzelne Seminare zum Thema. Seitdem bieten nur noch Fachhochschulen und konfessionelle Hochschulen die Ausbildung zum Sozialarbeiter/Sozialpädagogin an: in Berlin die Alice Salomon Hochschule, die Evangelische Hochschule und die Katholische Hochschule für Sozialwesen.

■ Das dreieinhalbjährige Bachelorstudium der Sozialen Arbeit soll zur Tätigkeit in freien oder behördlichen Einrichtungen befähigen, zum Beispiel in den Bereichen der Jugend- oder Obdachlosenhilfe. Fachleute kritisieren, dass die Bachelorstudiengänge im Vergleich zu den früheren Diplomstudiengängen viel weniger Praxisanteil und Spezialisierung bieten – aber auch zu wenig Raum für die kritische Betrachtung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse.

■ Weiterführende Masterstudiengänge sind rar gesät und werden zunehmend kostenpflichtig angeboten. So kostet etwa der Master mit Schwerpunkt Kinderschutz und frühe Hilfen an der Alice Salomon Hochschule 8.700 Euro (240 Euro pro Monat). (mah)

VON MANUELA HEIM
(TEXT) UND KARSTEN THIELKER (FOTOS)

Über den Konflikt will keiner reden. Zu viel Unerfreuliches war in den vergangenen Monaten in den Zeitungen zu lesen. Negativschlagzeilen über das Vorzeigewohnheim in der Kreuzberger Nostizstraße, in dem obdachlose Alkoholiker eine letzte Heimat finden und das zur renommierten Heilig-Kreuz-Passions-Gemeinde gehört. So soll ein profitorientierter Pfarrer die alte Führung rausgeschmissen haben. Nichts mehr da vom Idealismus, klagt der ehemalige Wohnheimleiter und Mitbegründer des Projekts, der in der Anfangszeit noch mit den Bewohnern im Haus schlief. „Damit immer jemand da war“, sagt er später. Heute ginge es nur noch um Defizite und Vollbelegung, um Senkung der Personalkosten und Rentabilität.

Es ist ein Gespenst, das seit 25 Jahren in der Sozialbranche umgeht: Das Gespenst der Ökonomisierung. Anfang der 90er unter dem Schlagwort „Sozialmanagement“ eingeführt, beherrschen inzwischen betriebswirtschaftliche Gedanken und Begriffe die Welt der Hilfsprojekte für Alte, Arme, Behinderte, Süchtige und Straffällige.

Häufig im Geiste der Achtundsechziger gegründet, bezeichnen sich die Einrichtungen heute selbst als „moderne soziale Dienstleister“ und fallen ein in den Sprech der Controller, abrechnenden Behörden, Kosten- und Leistungsrechner. „Wer als Unternehmer bezeichnet wird, verhält sich auch so“, sagt Mechthild Seithe, Verfasserin des „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ und schärfste Kritikerin des Wirtschaftlichkeitstrends, der taz. Eine Entwicklung, die auch vor den kirchlichen Betreibern sozialer Projekte nicht Halt macht, bestätigt Hannes Wolf, Vorsitzender vom Berliner Landesverband des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit (DBSH). Dabei, auch das sagen die KritikerInnen, könnte die Qualität sozialer Arbeit heute so gut sein wie nie zuvor.

Ein „nasses“ Wohnprojekt

Im Wohnprojekt Nostizstraße für alkoholkranke Männer, kurz nach 10 Uhr morgens: Unten im Eingangsbereich sitzen ein paar der Bewohner um einen Tisch, bei Bierchen und Kippen. Zwischen 6 und 10 Uhr darf in den Gemeinschaftsräumen nicht getrunken werden – Schnaps sowieso nur auf dem Zimmer. Später gibt es im Speisesaal Schweinebraten mit Rotkohl; nach dem Essen wird das Taschengeld verteilt. Eine Handvoll Männer macht sich dann auf den Weg, wie jeden Tag. Im typisch ungleichmäßigen Gang der Langzeit-Alkoholiker watscheln sie nach nebenan zur Tankstelle. Die hat, so erzählt ein Mitarbeiter, schon in den Anfangsjahren des Projekts – damals in den Neunzigern –, ihr Alkoholsortiment um Billigmarken erweitert.

Im Wohnheim leben 46 Männer zwischen 37 und 77 Jahren. 44 von ihnen sind nasse Alkoholiker. Die meisten trinken täglich – und den ganzen Tag, außer wenn sie schlafen. Und geschlafen wird wenig am Stück in einem Alkoholikerleben. Der typische Nostizstraßenbewohner ist älter als 50, hat lange auf der Straße gewohnt und diverse Begleiterkrankungen wie Abszesse oder Ekzeme.

Das Wohnprojekt Nostizstraße wurde 1998 von einem Pfarrer und einem Sozialarbeiter als letzte Heimat für die gegründet, die sonst ungesehen in U-Bahn-Schächten und auf Friedhöfen verrecken. Im vergangenen Jahr starben in dem Wohnprojekt vier Männer, zwei wurden wegen Gewaltbereitschaft rausgeschmissen – ansonsten gibt es kaum Gründe, das Haus wieder zu verlassen. Trocken wird hier so gut wie keiner mehr.

Joachim Ritzkowsky hieß der Pfarrer, der die Idee zu diesem deutschlandweit einzigartigen sozialen Projekt hatte. Ein feiner Mann mit weißem Bart, von dessen Charisma sie hier alle auch elf Jahre nach seinem Tod noch schwärmen. Damals an seiner Seite: Sozialarbeiter Werner Neske, lange Zeit der einzige Festangestellte im Projekt, engagierter Spätachtundsechziger ohne Bezug zur Kirche.

Ein einzigartiges Projekt

Am Anfang mussten sie die Obdachlosen davon überzeugen, ins Haus zu kommen, in Betten zu schlafen, sich medizinisch versorgen zu lassen. Um die 20 Männer waren es, die hier einfach sein durften, ohne etwas leisten zu müssen, ohne abstinent sein zu müssen wie in den anderen Suchtprojekten.

Die meisten der MitarbeiterInnen, die in den Anfangsjahren zu dem Projekt stießen, sind noch immer dabei, inzwischen fest angestellt. Um die mittlerweile knapp 50 Männer kümmern sich acht Menschen: Sozialarbeiter, Reinigungskräfte, Hausmeisterin, Bürokraft, dazu einige Nachtwachen als Honorarkräfte. Pro Tag zahlt der Bezirk dem Projekt 37 Euro für das belegte Einzelzimmer und 32 Euro für belegte Betten in den drei Doppelzimmern. Sachspenden wie Matratzen kommen von einem großen Berliner Hotel.

„Als ich hier anfing, sollte ich gleich erst mal den Haushalt aufstellen“, sagt Ulrich Davids, der sich selbst nur Uli nennt. Seit einem Jahr leitet er das Projekt, davor war er 25 Jahre lang Sozialarbeiter im Jugendbereich und zuletzt Politiker in Mitte. Im Dezember 2013 hatte er den Posten als Stadtrat für Jugend und Schule hingeschmissen, weil er nicht mehr der „Sparonkel“ sein wollte. „Die Anforderungen an die Professionalität waren enorm, die Sparzwänge aber noch viel größer“, sagt Davids.

Dann kam die neue Herausforderung für den 57-Jährigen: die Arbeit mit alten Alkoholikern statt mit Jugendlichen, in einem Projekt, das durch Haushaltsdefizite und Führungslosigkeit Schlagseite bekommen hatte. Die Vorstellungen von Gemeindeleitung und alter Führung hätten nicht mehr zueinander gepasst, so hatte der zuständige Pfarrer vor einem knappen Jahr gegenüber der taz die drastischen Personalmaßnahmen gerechtfertigt, bei denen es Abmahnungen, Hausverbote und viele böse Worte gehagelt hatte.

Nun sollte es also einen Neuanfang geben, auch wirtschaftlich. „Ich habe gedacht, hier ist die Zeit stehen geblieben“, erinnert sich Davids an seinen ersten Besuch im Haus. Die Konzeption sei noch aus den Neunzigern gewesen. „Genau so hätte ich es damals auch gemacht“, sagt Davids, der selbst vor vielen Jahren in seiner damaligen Heimat Salzgitter mit viel Enthusiasmus, unbeschwert und ohne Ahnung von Verwaltung einen Hort gründete. Heute gebe es deutlich mehr Verwaltungsaufwand, aber eben auch mehr Kontrolle der Projekte, die mit Menschen arbeiten und mit öffentlichen Geldern umgehen. „Das ist erst mal gut“, sagt Davids.

Im Jahr seit seinem Antritt habe es Veränderungen geben müssen, in den Arbeitsplatzbeschreibungen, im fachlichen Austausch mit bezirklichen Arbeitsgemeinschaften, an den Hygienestandards, in der Weiterbildung. „Die vier Sozialarbeiter haben die vergangenen zehn Jahre keine einzige Fortbildung gemacht“, sagt Davids. Das durch die Haussanierung entstandene Defizit bestehe immer noch, aber inzwischen sorge rasche Wiederbelegung für Umsatzsteigerung. „Wenn einer stirbt, zieht zwei bis drei Tage später ein neuer Bewohner ein“, so Davids. Die Nachfrage nach Plätzen in dem Wohnheim ist enorm.

Soziales wird ökonomisiert

Hannes Wolf ist Vorsitzender im Berliner Landesverband des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit (DBSH). Die Ökonomisierung der sozialen Arbeit habe auch positiven Einfluss auf die Professionalität gehabt: durch das Schaffen von Qualitätsstandards und Wirksamkeitsmessung (siehe dazu Interview auf Seite 45). Vor allem in den vergangenen 10 bis 15 Jahren habe sie aber zu einem grundsätzlichem Strukturwandel geführt: Wo früher die Stadt selbst zuständig war, gebe es immer mehr freie Träger.

So sind etwa im Suchthilfebereich rund 90 Prozent der Einrichtungen in Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege oder anderer gemeinnütziger Träger. Und die müssten eben vor allem um ihre eigene Existenz statt um die optimale Bearbeitung sozialer Probleme kämpfen, so Wolf. Bei 90 Prozent Personalkosten im Sozialbereich geschehe das vor allem über Arbeitsbedingungen und Entlohnung. „Die Logik des Marktes ist hier nur begrenzt anwendbar“, sagt Wolf. Im Bereich der sozialen Arbeit führe sie inzwischen zu einer Deprofessionalisierung.

Diese Tendenz betreffe alle Bereiche sozialer Arbeit, aber der Prozess sei unterschiedlich weit fortgeschritten – abhängig von den Kosten, die ein Bereich verursacht, und vom volkswirtschaftlichen Nutzen der „Klienten“. So stehe etwa die Kinder- und Jugendhilfe viel stärker im Fokus betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Rechnung als die Arbeit mit Behinderten, Drogensüchtigen oder Menschen ohne festen Wohnsitz.

Schweinebraten zu Mittag

In der Nostizstraße steht Jürgen* mit Gehwagen im zweiten Stock. Heute ist der Fahrstuhl defekt. Seit der Sanierung passiert das selten, das alte Modell aus den Sechzigern machte dagegen regelmäßig schlapp. „Soll ich dir das Essen hochbringen lassen?“, fragt Wohnheimleiter Davids den alten Mann. „Wat jibt’s denn?“ „Schweinebraten“, entgegnet Davids. „Denn bring ma hoch“, sagt Jürgen, „danke Uli!“

Ulrich Davids betreut neben seiner Leitungsfunktion selbst zwölf der Bewohner als Sozialarbeiter, die Freiheit nimmt er sich. In seinem Kellerbüro hängt ein Jackett, das er nur zu offiziellen Terminen überwirft. „Der Uli ist ein Profi, der mitgestaltet“, sagt Wolfgang Gersdorff, einer der Sozialarbeiter, die fast von Anfang an in dem Wohnheim arbeiten. Er selbst sei damals einfach vorbeigekommen und habe mitgemacht. „Da hat keiner groß nach der Qualifikation gefragt, wir haben einfach losgelegt.“ Inzwischen seien er und das Projekt bei den Behörden etabliert – ein großer Vorteil. Dass jetzt einer wie Ulrich Davids Leiter ist, „fachlich hervorragend und gut vernetzt“, sei ein großes Glück.

Auch Marion war schon auf der Baustelle dabei, damals noch als Mädchen für alles. Inzwischen ist sie fest angestellte Hausmeisterin. In den Anfangsjahren habe es mehr Enthusiasmus gegeben, mehr Muße und Zeit, viel Improvisation und Kreativität. Da saß man auch nach Feierabend noch mit dem ein oder anderen Bewohner und eigenen Freunden, die vorbeischauten, zusammen, „Da war Arbeit auch Leben“, sagt Marion. Heute sei alles professioneller. „Das hat beides etwas.“ Mehr Struktur erleichtere auch viel. „Ich bin ja selbst älter geworden.“

Ganz oben im Wohnheim, unter dem Dach, wohnt Harald* in einem kleinen Apartment. Mit 75 ist er einer der Ältesten hier, seit 2007 im Haus. Den Schweinebraten hat er sich mit hochgenommen. Was sich verändert hat in den den acht Jahren? „Sind einige gestorben“, sagt Harald, der auch hier sterben will und dann ins Gemeinschaftsgrab, dass noch Pfarrer Ritzkowsky für die Bewohner hatte anlegen lassen und in dem er selbst begraben liegt. „Der Uli ist auch prima“, sagt Harald.

Das Wohnheim Nostizstraße ist noch immer ein Nischenprojekt, dessen Bewohner niemand mehr zu „nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft“ aktivieren will. Es kostet vergleichsweise wenig Geld, ist inzwischen in ganz Berlin etabliert – PolitikerInnen schmücken sich gern damit. Ein Glück für Bewohner und MitarbeiterInnen. Pläne, das Projekt an einen großen kirchlichen Träger zu übertragen, sind erst einmal in die Ferne gerückt.

Ein düsteres Bild

Im Kleinen versuchen SozialarbeiterInnen vieler Projekte noch, ihr Bestes zu geben, sagt Mechthild Seithe. Die emeritierte Professorin hat 2010 mit dem „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ die wohl schärfste Kritik an den Arbeitsbedingungen und der Qualität der Sozialen Arbeit in Deutschland vorgelegt. Dafür hat sie zahlreiche MitarbeiterInnen in öffentlichen und privaten Einrichtungen befragt.

Das Bild, das sie zeichnet, ist düster. Die Aufgabe des „Non-Profit“-Prinzips in einem neoliberalen Umfeld bedeute das Ende einer auf die Menschen ausgerichteten Sozialarbeit. „Und immer wenn ich in die Praxis schaue, ist es noch einen Schlag schlimmer, als ich erwartet habe“, so Seithe. Ihre Bücher und Appelle schreibe sie inzwischen nur noch als Orientierung für die wenigen kritischen Stimmen in der Branche. Aber auflehnen sei ja nicht mehr „in“, auch an den Hochschulen werde inzwischen für den Markt ausgebildet, und die, die im System steckten, merkten gar nicht, wie sehr sie selbst die Schere im Kopf hätten.

Dass etwas gehörig schiefläuft, sei den allermeisten in der Branche schon bewusst, sagt dagegen Hannes Wolf vom Berufsverband. So wie jetzt könne es mit der Kosten-Leistungs-Rechnung im Sozialbereich nicht weitergehen. Nicht für die MitarbeiterInnen, nicht für die Betreuten und nicht in einer Gesellschaft, die solidarisch sein will. Lange Zeit erzeugte gerade die Vereinzelung in den vielen kleinen Trägern Ohnmacht und Hilflosigkeit, so Wolf. Aber seit einigen Jahren hätten sich etwa die Arbeitskreise für Kritische Soziale Arbeit, eigentlich eine Idee der Achtundsechziger, wiederbelebt. Seit 2012 engagierten sich auch BerufseinsteigerInnen und StudentInnen gegen die prekären Arbeitsbedingungen.

„Das System muss kollabieren“, prophezeit Wolf und gibt sich kämpferisch-optimistisch. Ökonomische Gesichtspunkte dürften die soziale Arbeit durchaus beeinflussen, aber nicht länger deren Leitmotiv sein. Was dann kommen könnte, da ist wiederum auch Mechthild Seithe, die seit 25 Jahren nur Qualitätsverschlechterung sieht, optimistisch: „Mit all der wissenschaftlichen Weiterentwicklung wäre ja theoretisch sogar eine bessere Sozialarbeit als früher möglich.“

* Name geändert