Endlich mehr tun als spenden

FLUCHT Ein Paar beschließt, einer syrischen Familie beim Neustart in Berlin zu helfen. Unsere Autorin hat sie ein halbes Jahr begleitet

Mit Flüchtlingen haben die Schmidts vorher nie etwas zu tun gehabt. Sie hatten sich auch nie irgendwie politisch engagiert

VON SANDRA LÖHR
(TEXT) UND CHRISTIAN MANG (FOTOS)

Nein, von einem Happy End sprechen kann man wirklich nicht. Dafür ist die Situation zu ungewiss, hängt alles noch zu sehr in der Luft, es gibt nichts Schriftliches. Aber die Zeichen mehren sich, dass die Sache gut aus geht. Vielleicht. Wenn das Amt nicht doch noch die Abschiebung durchsetzt. Und falls doch: Kann es der Rechtsanwältin dann gelingen, die Familie wieder nach Deutschland zurückzuholen?

Vielleicht. Wenn. Genau darum geht es in dieser Geschichte. Diese Vielleichts und Wenns begleiten eine syrische Familie seit mehr als zwei Jahren: Sie machen ihnen das Leben schwer und vergiften es mit Angst – auch das neue Leben in Europa, in Deutschland, das nach der Flucht doch endlich ein Leben in Sicherheit sein sollte. So wie es eigentlich der Grundgedanke des Asyls ist.

Ohnmächtige Wut

Diese Angst ist gewandert, sie hat sich mittlerweile auch in das Leben eines deutschen Ehepaars geschlichen, hat sich in ihren Köpfen und in ihrem Alltag breitgemacht. Und ihre Angst wechselt sich ab mit einer ohnmächtigen Wut auf die deutsche Bürokratie und auf die europäische Asylpolitik, die stur an Abschiebungsgesetzen festhält, die einfach keinen Sinn mehr ergeben.

Deswegen und weil die Gefahr der Abschiebung erst Mitte Januar vom Tisch sein dürfte, möchten weder das Berliner Ehepaar noch die syrische Familie ihren richtigen Namen in der Zeitung lesen. „Wir wollen einfach vermeiden, dass im schlimmsten Fall irgendetwas gegen die Familie verwendet werden kann. Das könnten wir uns nie verzeihen“, so das Ehepaar, nennen wir sie Christian und Maria Schmidt. Sie hatten sich ihre Hilfe für Flüchtlinge ganz anders vorgestellt.

Rückblende: Es ist Frühsommer 2014. Aufgeschreckt durch die vielen Berichte über den Flüchtlingsstrom aus Afrika und dem Nahen Osten nach Europa, beschließt das Ehepaar Schmidt, dass sie etwas tun wollen. Zu diesem Zeitpunkt leben die Schmidts seit einem knappen Jahr in Berlin. Sie ist Ende 20, er Anfang 30, beide kommen aus Bayern, beide haben einen guten Job. Er arbeitet bei einem großen Onlineversand, sie halbtags in der Marktforschung für eine Internetfirma. Nebenher studiert Maria Schmidt Informatik. Sie fühlen sich wohl in Berlin, haben hier viele Freunde von früher wiedergetroffen, und wann immer es geht, besuchen sie ihre Familien in Bayern. Man könnte sagen, dass sie ein altersgerechtes, ausgefülltes Leben führen: Studium, Karriere, Freunde, das Abenteuer einer neuen Stadt. Mit Flüchtlingen hatten sie vorher nie etwas zu tun. Sie hatten sich auch nie irgendwie politisch engagiert, höchstens mal etwas gespendet, wie es viele tun, um ihr schlechtes Gewissen ein wenig zu beruhigen.

„Etwas Konkretes machen“

Das reicht den Schmidts nun nicht mehr: „Wir wollten etwas Konkretes machen, einmal mehr als nur spenden“, sagt Maria Schmidt. „Und wir wollten diesem Bild, das Flüchtlinge in Deutschland nicht willkommen sind, irgendwas entgegensetzen.“

Im Internet stoßen sie auf einen Berliner Verein, der Kontakt zu Flüchtlingen vermittelt. Die ehrenamtlichen Berliner Helfer sollen jenen Menschen, die in der Stadt Zuflucht gesucht haben, im Alltag helfen: Ihnen die Stadt zeigen oder wie man U-Bahn fährt, wo man am besten einkauft, auch zusammen kochen oder bei der Wohnungs- oder Arztsuche behilflich sein. Die Schmidts sind begeistert und melden sich zu einem Info-Abend an. Dort beschließen sie, dass sie Mentoren sein wollen für die Flüchtlinge, also Freunde und Berater. Sie bewerben sich und werden ausgewählt. – Mentor ist der ältere Freund des griechischen Helden Odysseus, der ihm und seinem Sohn während seiner zehnjährigen Irrfahrt immer wieder hilft. Die Schmidts ahnen in diesem Moment noch nicht, dass auch sie Flüchtlinge durch eine Odyssee begleiten müssen.

Es ist warm an diesem Septembertag, die Sonne scheint. Noch einmal ist ein satter Spätsommer in die Stadt eingezogen. Christian und Maria Schmidt sitzen in einem kleinen Zimmer im Stadtteil Dahlem und warten. Hier, in den Räumen des Vereins Xenion an der Grunewaldstraße, sollen sie eine syrische Flüchtlingsfamilie kennenlernen.

Eigentlich ist Xenion ein psychotherapeutisches Behandlungszentrum für Menschen, die Krieg, Flucht und Folter erlebt haben. Ein kleines Team von Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiterinnen betreut traumatisierte Personen. Sie haben es meist besonders schwer, sich in einem neuen Land mit neuen Regeln, neuer Sprache, neuer Kultur zurechtzufinden, da sie das Erlebte oft nicht verarbeitet haben. Deswegen bringt der Verein die Flüchtlinge mit Ehrenamtlichen zusammen. Letztere sollen eine Brücke sein in die deutsche Gesellschaft.

Christian und Maria Schmidt tragen Jeans, T-Shirt und Turnschuhe und wirken nervös. Eine Mitarbeiterin von Xenion sitzt im Raum, sie nickt ihnen freundlich zu: „Wir haben ja bei unseren letzten Treffen alles genau besprochen. Ich werde sie jetzt mit den Malehs bekannt machen; dann machen wir gemeinsam den Vertrag für die Mentorenschaft. Uns als Verein ist wichtig zu betonen: Nicht nur sie als Mentoren geben etwas, sondern auch die Flüchtlinge: ihre Geschichte und ihr Vertrauen.“

Einfach wie ein Freund sein

Bei der Vorbereitung der Mentorenschaft wurden die Schmidts nach ihren Wünschen und Bedenken gefragt und ausführlich instruiert, was es heißen kann, mit traumatisierten Flüchtlingen zu tun zu haben. Sie erfuhren, dass es am besten sei, sich ganz normal zu verhalten und zu versuchen, einfach wie ein guter Freund die Flüchtlinge beim Aufbau ihres neuen Lebens zu unterstützen. Geduldig sein, nicht drängen und nicht von sich aus nach ihren schlimmen Erfahrungen zu fragen. Aber auch deutlich zu sagen, wenn es einem selbst zu viel wird. Und: Ein- bis zweimal die Woche sollten die Mentoren zwei bis drei Stunden Zeit haben für die Flüchtlinge. Aus diesen Gründen ist der Mentorenvertrag zunächst auf ein Jahr begrenzt. Danach können beide Seiten entscheiden, ob sie weitermachen wollen.

Den Schmidts kam das alles machbar vor. Deswegen hatten sie sich Anfang September für die vorgeschlagene syrische Familie entschieden. Zu diesem Zeitpunkt wissen sie nur, dass jene vor zweieinhalb Jahren aus Syrien geflüchtet waren und erst seit Februar 2014 in Berlin leben.

Es klopft. Ein junges Paar Anfang 30 mit Kinderwagen und einem fünfjährigen Mädchen an der Hand steht in der Tür. Sie gehen lächelnd und mit ausgestreckter Hand auf Christian und Maria Schmidt zu. Saleh Maleh und seine Frau Alaa sehen so gar nicht nach Flucht aus, sondern so, als wären sie ein gutsituiertes türkisches oder arabisches Paar, das schon länger in Berlin ist. Saleh Maleh trägt ein rotes T-Shirt, das über die trainierte Brust spannt, dazu Jeans, seine Frau Alaa ein kunstvoll aufgetürmtes Kopftuch mit Leopardenmuster, unter dem ihre geschminkten Augen und ihre weiße Haut gut zur Geltung kommen. Maria und Christian Schmidt beugen sich über den Kinderwagen, in dem Yahia, der sechs Monate alte Sohn, gerade wach wird. Seine Mutter hebt ihn hoch: Etwas verschlafen lächelt und gluckst er das deutsche Ehepaar an.

Die Anspannung der Schmidts löst sich in Luft auf. Auf Englisch fragen sie nach Namen und Alter der Kinder, erfahren, dass Tochter Talen 2009 in Damaskus geboren wurde und Yahia in einem Krankenhaus in Lichtenberg zur Welt kam, gerade mal einen Monat nach der Ankunft in Deutschland.

Die Chemie stimmt

Es ist Herbst geworden in der Stadt. Die Schmidts haben sich das erste Mal allein mit den Malehs getroffen. Obwohl es nur ein erstes Kennenlernen sein sollte, hat das Treffen vier Stunden gedauert. „Die Chemie zwischen uns hat sofort gestimmt“, sagt Christian Schmidt. „Alaa und Saleh sind total weltoffen und tolerant. Wären wir uns auf einer Party begegnet, hätten wir uns auch gleich gut verstanden.“

Die Schmidts haben so auch gleich alles von der langen Flucht erfahren. Die Geschichte der Malehs fängt genauso an, wie sie derzeit Tausende geflüchtete Syrer erzählen. Im März 2011 beginnen die Proteste gegen Assad, die sich zum Bürgerkrieg ausweiten. Die Malehs leben in Damaskus und bekommen immer häufiger Übergriffe des Assad-Geheimdienstes in ihrem Freundeskreis mit. Als die Bomben folgen, beschließen sie 2012, das Land zu verlassen. Richtung Europa.

Das Visum läuft ab

Aber es scheint unmöglich zu sein, auf legalem Weg dorthin zu gelangen. Sie fliegen zunächst mit einem Touristen-Visum nach Thailand, hoffen von da aus, ein Visum für ein anderes europäisches Land zu bekommen. Als nichts klappt und als das Visum abläuft, fliegen sie wieder zurück in den Nahen Osten, nach Ägypten. In Alexandria besteigen sie ein Schiff, das sie nach Italien bringt.

Der Großteil ihrer Familie – Mutter, Vater, Geschwister – war diesen Weg einige Monate zuvor gegangen und hatte es nach Schweden geschafft. Doch die Malehs haben Pech: Im Zug bei Mailand werden sie von Polizisten aufgegriffen, die ihnen Fingerabdrücke abnehmen. Als sie sich später in Schweden bei den Behörden melden, lehnen diese ihr Asylgesuch deswegen ab. Sie sollen zurück nach Italien, in den sicheren Drittstaat, wo sie zuerst registriert wurden. So sieht es die Dublin III-Verordnung der EU vor.

Aber sie wollen nicht dorthin. Sie haben aus Italien nur Schlechtes gehört über die schwierigen Lebensbedingungen für Flüchtlinge dort. Und sie erwarten ein zweites Kind. So versuchen es die Malehs Anfang 2014 in Deutschland, in Berlin, wo eine große syrische Community lebt. Sie stellen einen Asylantrag – und hoffen, dass sie diesmal bleiben können.

Die Schmidts sind beeindruckt, dass die Malehs trotz dieser Fluchterfahrung noch so viel Energie zu haben scheinen. Auf eigene Faust haben sie beispielsweise einen Kitaplatz für Talen gefunden. An einem Oktoberabend sind Christian und Maria Schmidt wieder zu Besuch bei Familie Maleh, um bei der Suche nach einer Wohnung zu helfen. Die Malehs bewohnen ein Zimmer in einem Flüchtlingsheim. Das einstige Hotel liegt an der Peripherie der Stadt, an einer großen, vielbefahrenen Straße. Gegenüber vom Heim verlaufen S-Bahn-Gleise; der Geräuschpegel in den nur mit einfachen Fenstern ausgestatteten Räumen ist dementsprechend.

Vier Betten, ein Tisch

Das Zimmer, das sich die vierköpfige Familie teilt, ist kaum 20 Quadratmeter groß. Vier Betten stehen darin, dazu ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Die Küche müssen sie sich mit 20 Familien teilen. Wenigstens haben sie ein kleines Bad für sich allein im Zimmer. Der Fahrstuhl wird nur für zwei, drei Stunden um die Mittagszeit angestellt. Für eine Familie mit kleinen Kindern, die fast jeden Tag schwere Einkaufstüten in den 6. Stock transportieren muss, eine nervige Situation. Aber am meisten Sorgen machen sich die Malehs um ihre Tochter, die Asthma hat und auf den alten Teppich allergisch reagiert.

Alaa hat für den Besuch Unmengen syrischen Essens vorbereitet, es gibt mit Hühnchen oder Gemüse gefüllte Teigtaschen, dazu Kibbe, frittierte Hackfleischbällchen, Houmus. Auf Englisch versuchen die Malehs ihren Gästen zu erklären, wie man die Teigtaschen zubereitet und welche Gewürze man braucht. Doch alle scheitern schon bei deren Namen – und lachen schließlich.

Nach dem Essen suchen die Schmidts mit den Malehs die Unterlagen für die Wohnungssuche zusammen. Zu Hause haben sie sich mit den „Ausführungsvorschriften über die Anmietung von Wohnraum durch Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AV Wohn-AsylbLG)“ auseinandergesetzt. Danach darf die Wohnung für eine Familie mit zwei kleinen Kindern nur zwischen 660 und 700 Euro kosten, muss drei Zimmer haben, darf aber nicht über 65 Quadratmeter groß sein. Fast ein Ding der Unmöglichkeit auf dem überhitzten Berliner Wohnungsmarkt.

„Ich habe über eine Stunde gebraucht, um überhaupt die Wohnungsregelungen für Flüchtlinge zu verstehen“, sagt Maria Schmidt und runzelt die Stirn. Und wenn die beiden dann tatsächlich so eine Wohnung finden, legen einige Vermieter sofort auf, wenn sie erfahren, dass die Wohnung für eine Flüchtlingsfamilie sein soll. Doch noch sind die Schmidts zuversichtlich. Sie ahnen nicht, dass die Wohnungssuche bald das kleinste Problem sein wird.

Im Laufe des Oktobers freunden sich die beiden Ehepaare immer mehr an. Sie treffen sich in Cafés, gehen spazieren, schauen nach günstigen Kinderklamotten in Secondhandläden, da der kleine Yahia alle paar Wochen aus seinen Stramplern herauswächst. Über Freunde haben Maria und Christian Schmidt einen Kinderarzt gefunden, der es bei Talens Asthma mit Homöopathie probiert. Die Schmidts haben den Eindruck, dass die syrische Familie ein bisschen angekommen ist in Deutschland; sie freuen sich mit ihnen über die ersten deutschen Wörter, die Talen in der Kita lernt.

Ende Oktober der Schock – das womit niemand gerechnet hat. An einem Freitagabend bekommen die Schmidts eine SMS von Alaa. „Leider schlechte Nachrichten. Wir haben einen Brief vom Bundesamt bekommen“, steht da. „Wir dürfen nicht in Deutschland bleiben, werden nach Italien abgeschoben. Euch ein schönes Wochenende.“

Die Schmidts sind fassungslos. Sie waren fest davon ausgegangen, dass die Malehs in Deutschland bleiben können. Schließlich ist Krieg in Syrien und die Malehs haben zwei kleine Kinder. „In meinem Kopf hat es in dieser Nacht nur rotiert“, sagt Maria Schmidt. „Schlafen ging gar nicht.“

Musik aus dem Laptop

Einige Tage später. Draußen verdämmert ein trüber Novembernachmittag. Die Schmidts sitzen wieder an dem kleinen Tisch im Wohnheim-Zimmer. Die Stimmung ist gedrückt. Nur die Straßengeräusche und arabische Musik aus dem Laptop, mit dem sich Talen YouTube-Videos ansieht, sind zu hören.

Die Malehs haben von anderen Abschiebungen gehört; erfahren, dass die Polizisten oft nachts kommen und laut an die Tür klopfen. Genau wie die Geheimdienst-Leute von Assad, die in ihrer Nachbarschaft wahllos Leute verhafteten. Jetzt haben sie wieder Angst. Fast jede Nacht.

Ihre Anwältin hat zwar sofort gegen den Ablehnungsbescheid geklagt. Aber ob sie jetzt wirklich abgeschoben werden können oder nicht, ist ihnen unklar. Ein Termin bei der Anwältin kriegen sie erst für Ende des Monats, es gibt zu viele ähnliche Fälle.

Die Schmidts haben deswegen hektisch im Netz recherchiert. Welche Möglichkeiten gibt es bei einer Abschiebung? Sie finden Tipps: Sagen Sie den Polizisten, die Sie abholen wollen, dass Sie sich nicht wohlfühlen, dass Sie krank sind. Wenn Sie zum Flugzeug gebracht werden: Sagen Sie den Passagieren, dass Sie gegen Ihren Willen abgeschoben werden und fordern Sie sie zum zivilen Ungehorsam auf. Sagen Sie das auch den Piloten. Normalerweise wird ein Pilot Sie dann nicht mitnehmen.

Alaa Maleh ist den Tränen nah: „Was sollen wir denn in Italien? Dort kennen wir niemanden. Bekannte haben uns erzählt, dass dort Flüchtlinge nur ein halbes Jahr Anspruch auf ein Platz im Wohnheim haben. Danach müssen sie selber sehen, wo sie unterkommen. Wie soll das gehen? Mit zwei kleinen Kindern und ohne Geld?“

Mit fast allem sind die Malehs fertig geworden. Seit 2011 leben sie mit dem Krieg, seit 2012 sind sie auf der Flucht. Sie haben Behördenwillkür in Thailand und Ägypten überstanden, 6.000 Euro für eine Überfahrt nach Europa bezahlt, zwölf Tage in einem kleinen Boot auf hoher See ausgeharrt, ohne richtige Toilette und ohne medizinische Versorgung, immer in Angst um ihre Tochter. Sie haben es bis nach Schweden geschafft, ihre Groß-Familie wiedergefunden und mussten sich dann doch wieder trennen. Sie haben immer weitergemacht, immer haben sie daran geglaubt, dass es irgendwie weitergeht, dass sich alles zum Guten wendet. Aber jetzt bröckelt ihre Zuversicht. „Gerade jetzt, wo Talen endlich einen Kitaplatz hat und sie endlich für ein paar Stunden hier aus dem Wohnheim rauskommt“, sagt Alaa. „Und gerade jetzt, wo wir euch getroffen haben.“ Maria nimmt sie tröstend in die Arme. Saleh sitzt stumm daneben.

■ UnterstützerInnen der Refugee-Bewegung haben für obdachlose Flüchtlinge wie die vom Oranienplatz, die vom Senat aus den Unterkünften geworfen wurden, eine Vermittlungsstelle für Schlafplätze, Wohnungen und Zimmer eingerichtet.

■ Angebote, ob temporäre oder längerfristige, können schriftlich gerichtet werden an schlafplatzorga@gmail.com. Wer Nachrichten auf dem Anrufbeantworter des Info-Telefons (0176/3732 5499) hinterlässt, soll schnellstmöglich zurückgerufen werden. (taz)

Bonbonbuntes Märchen

Talen schaut wie versteinert auf die bunten Bilder im Laptop. Sie sieht sich eine Aufführung eines Theaters aus Damaskus an. In dem Stück „Der Falke von Quraish“ geht es um einen Mann, der einst nach Spanien flüchten musste und dann als weiser Kalif nach Damaskus zurückkehrt. Das Ganze ist als Tanztheater inszeniert, ein bonbonbuntes Märchen mit viel Bewegung, Gesang und großartigen Kostümen, wie in einem Bollywoodfilm. Das Theater in Damaskus gibt es mittlerweile nicht mehr, die Künstler, Schauspieler, Sänger und Mitarbeiter sind fast alle auf der Flucht.

An diesem Theater hatte Saleh Maleh gearbeitet. Daneben war er Arabischlehrer. Alaa hatte wie Maria Informatik studiert, bevor sie schwanger wurde. In Damaskus wohnten sie in einem Haus mit Computer, Fernseher, Möbeln, ihre Familien waren da, es ging ihnen gut. Sie flüchteten nicht vor der Armut nach Europa, sondern vor einem Krieg.

Ende November treffen die Malehs endlich ihre Rechtsanwältin. Die hat ihr Büro in der Kreuzberger Oranienstraße. An diesem Tag begleitet nur Maria die Malehs. Ausgerechnet diesmal kann sich Christian wegen eines wichtigen Termins nicht freinehmen. Stumm sitzt Maria neben Saleh und Alaa im Wartezimmer der Anwältin. Es ist voll. Aus dem Sekretariat hört man das Telefon ständig klingeln. Gegenüber von ihnen sitzt ein Mann, der nicht aufhören will, lautstark in irgendeiner unverständlichen Sprache in sein Handy zu schreien. Talen, die zwischen ihren Eltern sitzt, schaut ihn verängstigt an. Saleh legt einen Arm um sie, wirkt selbst angespannt und erschöpft. Er versucht Maria anzulächeln, aber es gelingt ihm nicht ganz.

In den letzten Wochen hatte er in blindem Aktionismus mehrmals bei der Anwältin angerufen und Emails geschrieben und sie an alle Fristen erinnert, die er in seinen Asylunterlagen finden konnte. So, als müsse er irgendwas tun, um nicht verrückt zu werden. Jetzt öffnet sich eine Tür und die Anwältin Beate Böhler bittet die Familie freundlich in ihr Büro. Sie schaut kurz in den Computer und in eine Mappe, und kommt zur Sache: „Also, seit dem 5. November gibt es ein Urteil vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das sehr gut ist für unseren Fall. Denn es betrifft genau Ihre Situation und sagt sehr klar: Man kann eine Familie mit kleinen Kindern nicht nach Italien zurückschicken, solange Italien nicht eine angemessene Unterbringung garantieren kann.“

Saleh und Alaa Maleh nicken zögerlich. Von diesem Urteil hatte ihnen Maria schon erzählt. Eines Nachts, als sie wieder nicht schlafen konnte, weil sie sich Sorgen machte, hatte sie es zufällig auf einer Website gefunden. Am nächsten Tag fand sie sogar einen kurzen Fernsehbericht darüber und hat es ganz aufgeregt Saleh und Alaa geschickt. Doch die blieben skeptisch.

Saleh sitzt leicht vornüber gebeugt, sein Gesicht ist jetzt ganz rot vor Anstrengung, während er der Anwältin zuhört. Beate Böhler, eine schlanke, dunkelhaarige Frau Anfang 50, lächelt den Malehs aufmunternd zu. „Ich verstehe, dass Sie sehr verunsichert sind, ich kann mir vorstellen, wie viel Angst Sie haben müssen. Aber Sie können mir vertrauen, wirklich. Und es bringt nichts, wenn Sie hier jeden Tag anrufen und mich an irgendwelche Fristen erinnern. Ich weiß das, das ist mein Job.“ Saleh wird noch röter.

Beate Böhler kennt das schon. In der letzten Zeit bekommt sie wegen des großen Flüchtlingsansturms immer mehr Fälle wie den der Malehs auf den Tisch. Rund ein Drittel aller Asylbewerber werden abgelehnt und müssen ausreisen. 14-Stunden-Arbeitstage seien deswegen keine Seltenheit bei ihr. Trotzdem ist es auch für sie schwierig, ständig mit von Krieg und Flucht traumatisierten Menschen zu tun zu haben, die um ihre Existenz kämpfen und die eigentlich nichts nötiger hätten als Ruhe und die Zuversicht, an einem sicheren Ort wie Deutschland bleiben zu dürfen.

Nichts ist sicher

Bevor die Anwältin die Familie verabschieden will, weil schon der nächste Klient draußen wartet, fragt Maria Schmidt noch nach dem Worst Case, also danach, ob die Malehs jetzt doch noch irgendwie abgeschoben werden könnten. Beate Böhler zögert, dann sagt sie mit fester Stimme: „Rechtlich ist das eigentlich nicht möglich. Aber natürlich kann ich es auch nicht versprechen. In meiner langen Tätigkeit als Rechtsanwältin ist das auch schon einmal passiert. Und dann ist es schwierig, die Abschiebung noch zu stoppen. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich dann alles tun werde, um Sie aus Italien zurückzuholen.“

Mitte Dezember ist aus dem kleinen Baby Yahia mittlerweile fast ein Kleinkind geworden. Für seine ersten Laufversuche ist das schmale Zimmer ideal. Die Betten stehen so eng zusammen, dass er schon fast alleine von der einen Seite zur anderen herüber tapsen kann. Christian und Maria Schmidt haben in den letzten Wochen versucht, die Familie Maleh abzulenken und sie ein bisschen zu beruhigen. Sie haben sie zu sich nach Hause eingeladen, Plätzchen mit ihnen gebacken, waren mit ihnen auf einem Weihnachtsmarkt, haben Wohnungs-Flyer drucken lassen, auf denen sie die Fluchtgeschichte der Familie als Comic gezeichnet haben. Sie wollen unbedingt, dass die Malehs eine Perspektive haben, etwas, worauf sie sich freuen können, wenn dieser Alptraum einmal vorbei sein wird. Und obwohl sie das Gefühl haben, dass den Malehs das Zusammensein mit ihnen gut tut, spüren sie doch deren Hilflosigkeit und dass sie sie nicht wirklich ablenken oder beruhigen können. „Solange wir nicht einen Brief haben, wo genau drauf steht, dass wir jetzt hier bleiben und nicht mehr irgendwohin geschickt werden können, werden wir uns nicht sicher fühlen“, sagt Saleh.

Bis zum 13. Januar müssen sie noch warten, erst dann ist endgültig klar, dass sie nicht mehr abgeschoben werden können. An diesem Tag endet die gerichtliche Überstellfrist ihres Abschiebungsbescheides. „Wir freuen uns so, wenn der Januar vorbei ist“, sagt Christian Schmidt. „Dann können wir endlich mit dem beginnen, was bei der Mentorengeschichte eigentlich im Vordergrund steht: Saleh und Alaa Deutschland zeigen, das Land erklären, die Kultur und das Essen. Bisher haben sie ja nur die Schrecken der deutschen Bürokratie kennengelernt.“

Während sich also um sie herum alle Berliner auf Weihnachten vorbereiten und sich auf einige ruhige Tage freuen, werden die Malehs versuchen, nicht bei jedem Klopfen an ihrer Wohnheimtür zusammenzuzucken. Sie werden versuchen die Wenns und Vielleichts zu vergessen und sich auf ihre Freunde freuen, wenn die Anfang Januar wieder aus Bayern zurückkommen.

Genau das ist der Grund, warum Maria und Christian Schmidt froh sind, sich auf das Mentorenprogramm für Flüchtlinge eingelassen zu haben – trotz des Stresses, trotz der Angst. „Das mit der Freundschaft ist einfach so gekommen. Das ist sehr schön“, sagt Maria Schmidt. „Aber ich hätte vorher nie im Leben gedacht, dass ich mich für Deutschland mal so schämen würde.“