Wenn der Kinderarzt mahnt

SOZIALES Seit fünf Jahren hat Berlin ein neues Kinderschutzgesetz. Das hat vor allem eine Folge: Mehr Eltern gehen mit ihrem Nachwuchs zu den Vorsorgeuntersuchungen

„Michael Müller (SPD) sollte Kinderschutz zur Chefsache machen“

SABINE WALTHER, GESCHÄFTSFÜHRERIN DES BERLINER KINDERSCHUTZBUNDES

VON ANTJE LANG-LENDORFF

Die Einführung des Berliner Kinderschutzgesetzes vor fünf Jahren hat dazu geführt, dass mehr Eltern mit ihren Kindern zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen. Pro Jahr gebe es insgesamt 15.000 bis 20.000 zusätzliche Untersuchungen aufgrund des Gesetzes, sagte Oliver Blankenstein, Leiter der Zentralen Stelle an der Charité, der die Daten erfasst, gegenüber der taz. Die Neuregelung führe auch dazu, dass die Bezirke mit mehr belasteten Familien in Kontakt kämen. Wie oft dabei tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung festgestellt wurde, konnte Blankenstein nicht sagen. In so einem Fall müsste das Jugendamt eingeschaltet werden. Das sei in der Vergangenheit nur selten vorgekommen.

Vor fünf Jahren trat das neue Kinderschutzgesetz in Berlin in Kraft. Seitdem melden die Kinderärzte der Zentralen Stelle an der Charité, wenn Eltern mit ihrem Kind an einer der Vorsorgeuntersuchungen teilgenommen haben. Dort werden die Angaben mit dem Melderegister abgeglichen. Versäumen Eltern eine Untersuchung im vorgegebenen Zeitraum, erhalten sie einen Mahnbrief. Wegen der teils langen Wartezeiten auf einen Kinderarzttermin passiert das relativ häufig: 95.000 Familien bekamen 2013 einen solchen Brief geschickt.

Gehen die Eltern auch nach der Mahnung nicht zur Untersuchung, schaltet die Charité den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des jeweiligen Bezirks ein. Das war 2013 insgesamt 47.500 Mal vonnöten. Die Mitarbeiter treten dann in Kontakt mit der Familie und machen im Zweifelsfall auch einen Hausbesuch.

Für Blankenstein liegt hier ein wichtiger Nutzen des Gesetzes: Pro Jahr nehmen rund 6.000 der Familien, die kontaktiert wurden, dann auch eine Beratung zu einem ganz anderen Thema wahr, etwa wegen wirtschaftlicher oder psychosozialer Probleme, berichtet Blankenstein. „Das ist präventiver Kinderschutz: Die Gesundheitsämter erreichen auf diesem Weg Familien in schwierigen Situationen, die sie sonst nicht unbedingt kennengelernt hätten.“

Wenn sich das Gesundheitsamt bei ihnen meldet, machen Eltern oftmals doch noch einen Termin beim Kinderarzt. Die Mahnungen von Charité und Bezirken haben die Teilnahme an den Untersuchungen insgesamt erhöht: So ließen im Jahr 2011 92 Prozent der Eltern eine U4 durchführen, also eine Untersuchung der Säuglinge im dritten oder vierten Lebensmonat. 2013 waren es schon 98 Prozent. Zur U9, der Untersuchung für Fünfjährige, kamen 2011 82 Prozent der Kinder. 2013 waren es 87 Prozent.

Offenbar gibt es auch einen Lerneffekt: Die Meldungen an die Gesundheitsämter nahmen zwischen 2011 und 2013 leicht ab, die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen dagegen stieg. Blankensteins Fazit: „Die Leute gehen früher und freiwilliger zum Kinderarzt.“ Er würde das Einladungswesen gerne auch auf die Untersuchungen für Jugendliche ausdehnen. Da lägen die Teilnahmequoten bei mageren 35 bis 38 Prozent, so Blankenstein.

Der Berliner Kinderschutzbund zieht nach fünf Jahren Kinderschutzgesetz eine weniger positive Bilanz. Zwar laufe bereits vieles gut, so Geschäftsführerin Sabine Walther. Die Ausstattung sowohl bei den Jugend- als auch bei den Gesundheitsämtern reiche aber hinten und vorne nicht. „Es mangelt an finanziellen Mitteln und an Menschen, die das Ganze umsetzen.“ Walther forderte deshalb, der neue Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) solle Kinderschutz zur Chefsache machen. „Fünf Jahre sind rum. Jetzt muss endlich mehr passieren, als immer nur das Schlimmste zu verhindern.“

Die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Grünen, Marianne Burkert-Eulitz, beurteilt das ähnlich. Einerseits sieht sie durchaus positive Effekte des Kinderschutzgesetzes. „Ich finde gut, dass mehr Kinder an den Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen.“ Ziel des Gesetzes sei es allerdings gewesen, Fälle für den Kinderschutz früher oder schneller zu erkennen. „Das passiert nicht“, so Burkert-Eulitz weiter. Dafür brauche es auch keine neuen Gesetze, sondern vor allem eine bessere Ausstattung. Wie Walther kommt die Grünen-Sprecherin zu dem Schluss: „Das Hauptproblem ist die Personalknappheit der Jugendämter.“