Der Tag, an dem Memo nicht starb

Das Schicksal der Billigarbeiter, hochgerechnet in eine nicht so ferne Zukunft: In Alex Riveras Film „Sleep Dealer“ ermöglicht eine Fortschreibung der digitalen Revolution zwar großartigen Sex, aber auch neue Formen der totalen Kontrolle und Ausbeutung. Cyberworld meets Migrationserfahrung

Mexikaner arbeiten auf US-amerikanischen Baustellen, ohne je einen Fuß über die Grenze gesetzt zu haben. Der amerikanische Traum – ausländische Billigarbeiter ausbeuten und sie sich gleichzeitig vom Leib halten – ist wahr geworden. „Sleep Dealer“ von Alex Rivera erzählt von der nahen Zukunft. Möglich wird die traumhafte Fernarbeit durch eine technische Revolution, welche die digitale Revolution, die wir erleben, fortschreibt: Die Arbeiter verbinden sich mithilfe von Implantaten, die in Unterarmen und im Nacken stecken, mit der globalen Ökonomie. Heißt: Sie schließen ihre Nervenbahnen mit Netzkabeln kurz, die riesige Datenmengen transportieren und daher menschliche Bewegungen, sei es mit den Armen oder den Augen, auf die von ihnen gesteuerten Maschinen übertragen können. So befehligen die digitalen Arbeiter Armeen von Industrierobotern auf fernen Baustellen. Oder sie verdingen sich als US-finanzierte Söldner im „Kampf gegen den Terror“ und schießen mit gleichfalls virtuell gesteuerten Starfightern unter Verdacht geratene Personen noch im letzten Winkel der Welt ab.

Dieses Schicksal ereilt auch den Vater von Memo Cruz. Der Radiosatellit, den Memo sich aus purer Langeweile gebastelt hat, kommt der Terrorbekämpfungsbehörde verdächtig vor; sie lässt das Häuschen der Familie Cruz in Flammen aufgehen. Memo, dem der Anschlag eigentlich galt, überlebt, weil er zum fraglichen Zeitpunkt außer Haus war. Er tritt daraufhin den Weg nach Tijuana an, um Geld zu verdienen.

Das Spannende an „Sleep Dealers“ ist die Sorgsamkeit, mit der hier Visionen von der virtuellen Welt mit Elementen der Gegenwart gemischt werden. Der erste Spielfilm des in New York lebenden Medienkünstlers und Filmemachers ist kein abgehobenes Sciencefiction-Spektakel, in dem Space-Autos etwa durch die Luft jagen – wie in Luc Bessons „Das Fünfte Element“. Stattdessen unternimmt der 35-jährige Rivera den – dramaturgisch nicht immer ausgereiften, aber visuell oft gelungenen – Versuch einer von der heutigen Arbeitswelt ausgehenden Hochrechnung. Cyberworld meets Migrationserfahrung. Mithilfe von HDCAM, Animationen und verhaltener Computerspielästhetik zeichnet er den Werdegang eines sympathisch-naiven Bauernsohns unter folgenden Prämissen: Die sogenannte Erste Welt wird ihre Märkte auch in Zukunft massiv gegen die Migration der Armen schützen. Konzerne werden Wasser portionsweise an die Bauern verkaufen. Der Kampf gegen den Terror wird weiterhin erlauben, die Privilegien der Reichen zu verteidigen. Riveras Bilanz ist sarkastisch: Die Wäsche der Armen wird auch dann noch zum Trocknen im Wind flattern, wenn sie auf Baustellen nur mehr virtuell arbeiten und keinen einzigen Stein mehr real in die Hand nehmen. Elektronische Musik wird nur noch Großeltern verständlich sein, die Jungen werden über sie den Kopf schütteln, doch alle trinken sie Bier. Ihre Erschöpfung wird die Sehnsucht nach Liebe nicht erschöpfen. Der Zuschauer, der das romantisch findet, ist blind. Denn die meisten Menschen werden scheitern, auch wenn sie – wie Memo – zwischendurch fantastischen Sex haben. Die Technik nämlich, die die Ausbeutung sichert, erlaubt auch die Steigerung des Vergnügens. Mit der Liebsten verkabelt, rauscht ihre Erregung direkt in seine Venen. INES KAPPERT

„Sleep Dealer“. Regie: Alex Rivera. Mit Leonor Varela, Jacob Vargas, Luis Fernando Peña. Mexiko/USA 2008, 90 Min.; 13. 2., 10.30 Uhr, Cinemaxx; 14. 2., 17 Uhr, International; 16. 2., 14.30 Uhr, Cubix