Staunen und stolpern

VERFÜHRUNG Neue, herzchenförmige Lippen, aber auch die billige Verbrüderung von Herrschaft und Ausbeutung: Die restaurierte Fassung von „Metropolis“ ist ergreifend

Ein Blickwechsel, den es so vorher nicht gab und der den ganzen Nimbus der Ersatzheiligen einfängt

Es sind Lippen! Das erste neu hinzuaddierte Bild der restaurierten Fassung von „Metropolis“ gehört der Lippenkosmetik einer leicht bekleideten Schönheit. Herzchenförmig werden sie ausgemalt, damit mit ihnen die Verführung zum leichten Leben in den „Ewigen Gärten“, die die Reichen zur Zerstreuung angelegt haben, wieder auf Touren kommen kann. Ganz so, als ob dieser Stummfilm, zu dessen Mythos es gehört, dass er die meiste Zeit ein Torso geblieben ist, auf dieses Mundwerk 83 Jahre lang gewartet hätte.

Am 10. Januar 1927 wurde „Metropolis“ uraufgeführt. In der damaligen Premierenfassung von mehr als 150 Minuten, die bald als verloren galt, ist Langs Werk nur kurze Zeit gelaufen. In den 1930er-Jahren machte man sich zunächst in New York auf die Suche nach verloren gegangenem Material. Von 1964 bis 1975 forschte das staatlichen Filmarchiv der DDR nach dem Original. Doch erst 2008 tauchten vermisste Teile in Buenos Aires auf. Mit der argentinischen Kopie konnte die Premierenfassung bis auf drei Minuten wiederhergestellt werden.

Bereits die nächste längere Einstellung mit dem typischen Fadenregen und dem wolkigen Grau der hineingeschnitten 16-mm-Fassung lässt ahnen, wie wertvoll die wiederentdeckten Rollen für die Rekonstruktion waren. Diesmal ist es der Blick aus den künstlichen Paradiesen der dekadenten Oberschicht zurück auf Maria, die, umringt von Arbeiterkindern, zur Klassenversöhnung aufs A-Deck hochgefahren ist. Ein Blickwechsel, den es so vorher nicht gab und der doch den ganzen Nimbus der Ersatzheiligen in dieser frauenlosen Technokratie einfängt.

Brigitte Helm wurde in ihrer Schizophrenie als massenbesänftigende Unschuld einerseits und als aufhetzendes und wollüstiges Hybridwesen andererseits zum Vorbild für viele zusammengeschraubte Maschinenwesen. Der Erfinder von Marias stählernem Klon, Rotwang, gilt in der Geschichte des Kinos als der unangefochtene Prototyp des „Mad Scientist“. Und Freder, den Sohn des Industriemoguls und Herrschers über „Metropolis“, kann man in vielen erst schwächlichen, dann hitzköpfigen Visionären der Kinoleinwand wiederfinden, die glauben, aller Zukunftseuphorie ein soziales „Herz“ geben zu müssen. Wer noch Leonardo Di Caprio als Howard Hughes in Scorseses „Aviator“ in Erinnerung hat, mag angesichts von Freders irrwitziger Mimik ein Déjà-vu erleben.

Bei allem wiederholtem Staunen bleibt aber auch das Stolpern über die billige Verbrüderung von Herrschaft und Ausbeutung, das ungebrochene Führerprinzip, die biologistische Bestimmung zur mörderischen Maloche. Siegfried Kracauer sah damals in Langs Symmetrisierungen der Massen und dem Ornament ihrer synchronen Bewegungen das Merkmal des präfaschistischen Kinos. Viele nach ihm haben in dem gigantischen Zug der uniformierten Arbeiter die Todesindustrie des Faschismus wiedererkannt. Und bis heute kann man sich darüber streiten, wie viel widerstreitende Ideologie den Plot nach dem Illustriertenroman der Thea von Harbou unterfüttert. So oder so, ab jetzt aber wird es dabei auch immer um diese Lippen gehen müssen, wenn man über die Verführung stumpfer Massen in „Metropolis“ debattiert. Und diese kleine Neuigkeit gesehen zu haben ist schon auch ein bisschen, nun ja, ergreifend.