"Tabu" im Wettbewerb: Nur das Plätschern des Wassers

"Tabu" des jungen Regisseurs Miguel Gomez beginnt wie ein Märchen. Der Film handelt jedoch von der Kolonialvergangenheit Portugals und einer exzentrischen alte Frau.

Die Liebesgeschichte zweier Weißer in Afrika - ohne Afrikaner: Szene aus "Tabu". Bild: berlinale

Die Geschichte klingt wie ein Märchen. Was aber, wenn sich in den Ablagerungen und Schichten der Überlieferungen doch handfeste Beweise finden ließen? Dann würde das Märchen plötzlich wahr. Geschichte müsste umgeschrieben werden, Menschenleben wären nicht mehr dieselben.

Diese beiläufige These stellt der portugiesische Regisseur Miguel Gomes mit seinem Wettbewerbsbeitrag "Tabu" zunächst in den Raum, um daraufhin eine weite Reise von der Fiktion über die eigene Erinnerung bis in die Realität der Kolonialvergangenheit seines Landes zu unternehmen. Seine Spurensuche fördert einige seltsame Artefakte zu Tage: unter anderem ein melancholisches Krokodil, die einzige Plattenveröffentlichung einer obskuren Rock-'n'-Roll-Band aus dem tiefsten Afrika oder eine alte RKO-Produktion, von der die Filmwelt noch nie zuvor gehört hat (möglicherweise eine Fortsetzung des Schmachtfetzens "Schnee am Kilimandscharo").

Sie alle führen zurück zu der exzentrischen alten Frau im Mittelpunkt von Gomes' Film: Aurora. Aurora hat eine Tochter, die nicht mehr mit ihr spricht, Schulden, weil sie im Casino ihr Geld verspielt, und eine kapverdische Haushälterin, die sie für eine Hexe hält. Ihre Nachbarin Pilar, eine gläubige Christin, kümmert sich mit Engelsgeduld um Aurora, aber alles deutet darauf hin, dass der bald die letzten Kräfte schwinden.

Dieser Abschnitt des Films, "Paradise Lost" betitelt, folgt im weitesten Sinne noch den Konventionen des klassischen Erzählkinos - wobei Gomes bereits harmlosere Absurditäten einstreut. Die Menschen führen hörbare Dialoge (um alle Unklarheiten auszuräumen, wiederholen sie die Sätze des Anderen manchmal auch), die Bilder sind in bestechendem Schwarz-Weiß gefilmt. Ein einziger Satz aber ändert den Verlauf der Geschichte. Er ist erhellend hinsichtlich Auroras Biografie, aber er eröffnet Gomes auf filmischer Ebene auch neue formale Freiheiten: "Aurora wuchs in Afrika auf" lautet der Satz, der aus dem Off zu hören ist. Fortan wird man aus dem Film heraus keine Sprache mehr zu hören kriegen, nur die Erzählstimme, das Plätschern des Wassers und die Schüsse von Gewehren.

Hommage an die Zwischenzustände des Kinos

Der Ortswechsel nach Afrika lanciert einen neuen Erzählmodus. Die stumme zweite Hälfte von "Tabu" mit dem ironischen Titel "Paradies" soll nicht nur an Murnaus Expedition für seinen gleichnamigen Südsee-Liebesfilm erinnern. Sie problematisiert im Grunde auch schon die kolonialen Verhältnisse, indem sie die Liebesgeschichte zweier Weißer unter Ausschluss der Afrikaner erzählt.

Gomes beweist ein Gespür für treffsichere Pointen, wenn er am Ende den tödlichen Eifersuchtsunfall eines Europäers als Ausgangspunkt der afrikanischen Unabhängigkeitsbestebungen heranzieht.

Gomes' bisheriges Oeuvre besteht aus einigen Kurz- und zwei Langfilmen, daher wäre es verfrüht (und ganz sicher zu verknappt) zu behaupten, seine Geschichten bewegten sich im Grenzbereich von Fiktion und Dokumentation. Sein hochgelobter letzter Film "Our Beloved Month of August" behandelt in gewisser Weise sogar den Zusammenbruch der Fiktion.

Mit "Tabu" hat er die Defizite der Fiktion wieder in eine Tugend verwandelt. Sein Film ist auch an eine Hommage an die Zwischenzustände des Kinos.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.