Merkwürdige Symbiosen

MIT HINTERGRUND Freundschaft, Familie, Brüder: „Westerland“ von Tim Staffel, „Karaman“ von Tamer Yigit und Branka Prlic (Perspektive Deutsches Kino)

Zwei Filme, zwei Städte. Westerland auf Sylt die eine, Karaman in der Türkei die andere. Beide nicht groß, beide nicht schön, beide eingebettet in eine Landschaft, die die Hässlichkeit der Hoch- und Apartmenthäuser wettmacht. Die Dünen der Nordseeinsel hier, die Mandelbaumhaine Zentralanatoliens dort. Die Weite des Drumrums betont die Enge des Innendrinnen, in beiden Filmen, die in der Perspektive Deutsches Kino laufen.

„Westerland“, der Debütfilm des Schriftstellers Tim Staffel, basiert auf der Vorlage seines eigenen Romans „Jesús und Muhammed“. Muhammed heißt im Film Cem (Burak Yigit), ist ungefähr 20 Jahre alt, ein aufgeweckter, verantwortungsvoller Junge, das merkt man gleich, er arbeitet beim Ordnungsamt, macht sein Abi nach, will Landschaftsarchitekt werden. Aber erst mal steht er in seiner signalorangen Arbeitskluft plötzlich neben der Bank in den Dünen, auf der Jesús (Wolfram Schorlemmer) sitzt. Mit einer Tüte über dem Kopf.

Jesús ist ein, auch das weiß man sofort, biodeutsches Mittelstandskind mit Psycho- und Sinnstiftungsproblem. Aber an Cem bleibt er hängen. Oder Cem an ihm. Die beiden Jungs versacken im Laufe des Films in einer Symbiose, die für sie selbst wohl genauso rätselhaft ist wie oft für die Zuschauer: Was hat hier der eine vom anderen? Was bindet sie aneinander? Lebt Cem an dem bulimischen, sich ziellos durch die Tage kiffenden Jesús ein Helfersyndrom aus? Benutzt Jesús die Gastfreundschaft und die Lebensfreude des anderen nur, um temporär Halt zu finden? „Westerland“ ist ein sehr eigener, manchmal sehr merkwürdiger Film über eine Beziehung jenseits aller Standards – vor allem jenseits der Bebilderungsstandards.

Andere Bilder der Liebe entdecken

Denn gerade weil Staffel auf die eindeutige filmische Repräsentation von „Liebe“ verzichtet (es gibt weder Kuss noch Sex), ist man beim Zusehen ständig am Schwimmen, welche Qualität das hat, was da zwischen diesen beiden Jungs passiert. Gerade weil sie fehlen, fällt auf, wie schrecklich schlicht die herkömmlichen visuellen Codes für ein so ein komplexes Phänomen wie die Liebe sind, und in diesem Film die Augen zu öffnen, um andere Bilder der Liebe zu entdecken oder nicht, das macht richtig Spaß.

„Karaman“ ist der zweite Spielfilm von Burak Yigits zwölf Jahre älterem Bruder Tamer sowie dessen langjähriger Theaterregiekollegin Branka Prlic. Die in Istanbul studierende Zehra besucht Vater und Bruder in der Heimatstadt. Der Vater, ein hochrangiger Militär im Ruhestand, ist von ihrem Plan, das Studium in Berlin fortzusetzen, so wenig begeistert wie ihr Black Metal hörender Bruder Erol von ihrem Kopftuch.

Versuchsanordnung unter dem Brennglas

Prlic und Yigit treiben zwischen diese drei Personen fast sämtliche Konfliktlinien der heutigen türkischen Gesellschaft aufeinander zu. Wie in einer Versuchsanordnung unter dem Brennglas kommt schon in der ersten Viertelstunde eine Menge aufs Tablett: Umdeutung der Geschlechterrollen, Umgang mit den Putschisten von 1981, Reislamisierung, Popkultur. Es ist erstaunlich, dass dieses Füllhorn an Türkeistudien doch recht natürlich inszeniert wird, es gibt einige bestechende Dialoge und Szenen, die eine unpathetische Zeitgenossenschaft zustande bringen, wie man sie im türkischen Film selten findet.

Allerdings will „Karaman“ gen Ende plötzlich mehr: Der Film bekommt Manifestcharakter, tritt als Aufruf ans gesamte türkische Volk auf, warnt vor falschen Sehnsuchtsorten (Europa bzw. Deutschland) und der schicksalsergebenen Flucht unter Kopftuch und Kopfhörer. Da scheint ein Kreuzberger Regieduo mit Migrationshintergrund zu finden, aus der Distanz den Türken in der Türkei gute Tipps geben zu können. Ein interessanter, etwas befremdlicher Fall. Wann plustert sich heutzutage schon noch ein Film, der eigentlich ein formal in viele Richtungen probierendes Arthouse-Kammerspiel mit Gespür für gesellschaftliche Problemzonen ist, zuguterletzt noch zu Agitprop auf? KIRSTEN RIESSELMANN

■ „Karaman“, Heute, 16.30 Uhr + 18. 2., 20.30, Uhr, CinemaxX