WAS BISHER GESCHAH (8)
: Ungarns Angst

Geht’s noch peinlicher? Da tritt der Staat Künstlern von „Nur der Wind“ gegenüber bevormundend auf

Kurz vor Schluss leisten sich die Ungarn noch einen derartigen Schnitzer, der eine Menge aussagt über Orbán-Land. Zur Premiere von Bence Fliegaufs Wettbewerbsbeitrag „Csak a szél“ („Nur der Wind“) lud die ungarische Botschaft zu einem Podium unter dem Titel: „Roma in Europa und Ungarn – ist das ein Problem?“ In der Einladung wurde der Inhalt des Films so zusammengefasst: „Am Beispiel einer Roma-Familie [wird] – allerdings keiner wahren Geschichte folgend – das Leben dieser Familie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang“ [beschrieben].

2008/2009 gab es in Ungarn eine rassistisch motivierte Mordserie, der sechs Roma zum Opfer fielen, weitere wurden schwer verletzt. Im Frühjahr 2011 eskalierte die Gewalt rechtsradikaler Milizen gegen Roma in dem Dorf Gyöngyöspata. Regisseur Fliegauf hat vor dem Hintergrund dieser doch ziemlich wahren Geschichte einen beklemmenden Film gemacht über eine Roma-Familie am Rand der Verelendung, Alltagsrassismen, trotzige Versuche der Selbstbehauptung, harte Arbeit für wenig Geld und über ein Ende mit Schrecken. Die Kamera klebt dabei immer ein Stück zu dicht an den Körpern, was vom interessierten Zusehen ins bedrohliche Hetzen kippt. Preiswürdig.

Die ungarische Regierung indes scheint Angst zu haben vor diesem Film, den sie mit 60.000 Euro gefördert hat. Angst vor dem Ungarn-Bild, das er in die Welt transportiert. Zur Pressekonferenz lag ein dreiseitiger Text vom „Staatssekretariat für soziale Integration“ auf den Stühlen: Darin eine ausführliche Erläuterung zum Stand der Ermittlungen (der Film unterschlägt die Bemühungen der Behörden!), eine Auflistung rechtsextremer Straftaten anderswo (der Film unterschlägt Breivik und die NSU!) und die Lobhudelei der unter der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft im letzten Jahr verabschiedeten „Roma-Strategie“ (der Film unterschlägt unsere Integrationspolitik!). Dabei seien die Roma der Regierung doch so wichtig, dass man die Aufmerksamkeit mit „sogar drastischen Mitteln, so zum Beispiel durch die Verwendung des Kinos“, auf sie richte.

Geht’s noch peinlicher? Da tritt der Staat Künstlern gegenüber bevormundend auf und macht klar, dass man für das investierte Geld ein zumindest ausgewogenes Ungarn-Bild erwartet hätte. Unfassbar.

Regisseur Fliegauf, dem das Pamphlet gereicht wurde, sagte nur: „Oh my god!“ Am Abend in der Botschaft wollte der für den Text verantwortliche Staatssekretär – vorgestellt als „unser Minister für die Romafrage“ – nichts von der Verteilaktion gewusst haben, der Herr Moderator hatte den Film gar nicht erst gesehen, vom Filmteam konnte zu dem Zeitpunkt niemand da sein, dafür war genügend Zeit fürs Lob der Fidesz-Politik. Aua.

KIRSTEN RIESSELMANN