Ich konfrontiere die Zuschauer mit sehr roher Realität

KÜNSTLERINNEN-SCHICKSAL Regisseur Bruno Dumont über „Camille Claudel, 1915“, die strukturelle Gewalt der Anstalt und Juliette Binoches Diskretion am Set

■ Der französische Regisseur Bruno Dumont (Jg. 1958) gilt als umstrittenster Vertreter des europäischen Autorenkinos. Seine formal strenge, distanzierte Filmsprache und seine Vorliebe für gewalttätige Plot-Auflösungen haben dem studierten Philosophen viel Kritik, aber auch bedeutende Preise beschert. Mit seinen Filmen „Humanität“ (1999) und „Flandern“ (2006) gewann er in Cannes jeweils die Goldene Palme. Im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale ist Dumont mit seinem biografischen Film „Camille Claudel, 1915“ vertreten. Der Film schildert drei Tage im Leben der französischen Bildhauerin (gespielt von Juliette Binoche), kurz nachdem ihre Familie sie in einer psychiatrischen Anstalt unterbrachte, wo sie die letzten dreißig Jahre ihres Lebens eingesperrt war. Inspiriert wurde Dumonts Film von dem Briefwechsel zwischen Camille und ihrem Bruder Paul.

INTERVIEW ANDREAS BUSCHE

taz: Monsieur Dumont, Ihre Filme spalten das Publikum, aber auch die Kritik. Welche Gefühle wollen Sie mit Ihren Filmen beim Zuschauer auslösen?

Bruno Dumont: Ich denke, die Leute fühlen sich von meinen Filmen provoziert, weil sie mit einer bestimmten Erwartungshaltung ins Kino gehen. Sie wollen unterhalten werden. Ich bin dagegen vor allem an menschlichen Erfahrungen interessiert. Meine Aufgabe besteht darin, die harsche Realität von Camille Claudels Leben zu beschreiben. Auf die Gefühle des Zuschauers kann ich dabei keine Rücksicht nehmen.

Sie haben Camille Claudels Leben in der Anstalt als „Nichts“ beschrieben. Ihr Film ist sehr reich, und trotzdem spürt man diese große Leere.

Ich glaube an das Prinzip der Reduktion. Je weniger Handlung ein Film hat, desto konzentrierter ist die Inszenierung. Dies gilt ebenso für den Zuschauer: Ein Minimum an Aktion steigert die Wahrnehmung von winzigen Nuancen, weil der Zuschauer plötzlich gezwungen ist, selbst aktiv zu werden.

Denken Sie, dass die formale Reduktion Ihren Figuren menschlich eher gerecht wird?

Meine Absicht war zunächst, die Wahrnehmung für die Krankheit zu schärfen, die für die Frauen, die Camille umgeben, die einzige Realität darstellt. Ich halte einen dokumentarischen Ansatz für die beste Wahl, um Camilles Situation zu beschreiben. Wenn sie in der zweiten Hälfte des Films schließlich ihre Stimme findet und ihre Gefühle mit ihren eigenen Worten zum Ausdruck bringt, hat der Zuschauer bereits einen sehr genauen Eindruck von den Lebensumständen.

„Camille Claudel, 1915“ ist Ihr erster biografischer Film. Was hat Sie an der Figur der Bildhauerin gereizt?

Mich faszinierte, dass nur wenige Quellen existieren über die dreißig Jahre, die Camille Claudel eingesperrt verbrachte. Ich war also großenteils auf medizinische Befunde angewiesen, um ihren Alltag in der Anstalt zu beschreiben. Die Briefwechsel zwischen Claudel und ihrem Bruder Paul dienten mir als Grundlage für die gesprochenen Texte. Aus diesen beiden historischen Quellen entstand der Film.

Wie viel Raum zur Interpretation haben Sie zugelassen?

Die Dokumente liefern lediglich Fakten und Worte. Ich habe in „Camille Claudel“ aber auch mit geistig behinderten Menschen gedreht, und unter diesen Umständen muss man mit dem arbeiten, was einem die Darsteller anbieten. Sie spielen schließlich keine Rollen, sondern sie sind sie selbst. Das wollte ich als Regisseur respektieren.

Sie haben einmal gesagt, dass das Kino viel zu abhängig sei von Handlung, Sujet und Figuren. „Camille Claudel“ wirkt wie die Antithese zu dieser Aussage. Sie arbeiten zum Beispiel mit ungewöhnlich vielen Close-ups.

Ich sehe „Camille Claudel“ nicht unbedingt als eine Abkehr von meiner Philosophie als Filmemacher, obwohl Sie insofern recht haben, dass ich es dieses Mal vorgezogen habe, meinen Darstellern etwas näher zu kommen als in meinen bisherigen Filmen. Jede Geschichte erfordert eine andere Distanz zu ihren Figuren, aber meine Aufmerksamkeit ruht dabei stets auf der Kamera, nie auf den Schauspielern. Ich gebe meinen Darstellern eine Reihe von technischen Limits, innerhalb derer sie arbeiten dürfen.

Sie kommen von der Philosophie, haben also bisher mit Worten und mit Bildern gearbeitet. Welchen Ausdruck empfinden Sie als direkter?

Wir erleben die Wirklichkeit mit allen unseren Sinnen. Worte wirken dagegen wie ein Filter des menschlichen Ausdrucks, weil in ihnen Erfahrungen bereits verarbeitet sind. Darum ziehe ich es vor, den Zuschauer mit einer sehr rohen Realität zu konfrontieren. Das Grübeln und die Worte setzen in „Camille Claudel“ erst spät ein. Sobald Camille versucht, sich verbal zu artikulieren, beginnt sie automatisch auch, sich selbst zu belügen.

Sie haben in Ihren bisherigen Filmen bevorzugt mit Laiendarstellern gearbeitet. Wie schwierig ist es für eine professionelle Schauspielerin wie Juliette Binoche, ihre antrainierten Manierismen abzulegen?

Das kann man nicht pauschalisieren. Juliette wollte mit mir arbeiten, daher wusste sie, worauf sie sich einlässt. Vielleicht wollte sie sich einmal von einer bestimmten Form der Schauspielerei befreien. Am Set war sie sehr diskret. Sie hat sich ohne Allüren in die Gruppe der kranken Frauen eingefügt.

Die Gewalt in „Camille Claudel“ ist im Gegensatz zu ihren bisherigen Filmen nicht äußerlich, sondern strukturell.

Gewalt ist ein Aspekt einer mentalen Störung. Ich musste also nicht mehr tun, als die Präsenz von Gewalt spürbar zu machen. Ich schuldete es diesen Menschen, die Ausprägung ihrer Krankheit nicht zu überzeichnen; ich wollte mich ihrem Leben so objektiv wie möglich nähern.

Ihr Film spielt in einem weitgehend abstrakten Raum. Erst mit dem Auftritt von Paul im letzten Drittel nimmt Camilles Hölle konkrete Züge an, weil hinter der institutionellen Unterdrückung plötzlich die akute Gewalt in Form eines religiösen Fanatismus zum Vorschein kommt.

Paul ist eine wichtige Figur, weil er im Schlussakt alles zuvor Gesehene in ein gesellschaftliches Verhältnis setzt. Man beginnt zu verstehen, dass Camille aus einer strengen katholischen Familie stammte, die ein Verhalten abseits der Norm nicht duldete. Da haben Sie im Grunde auch wieder Ihren Gewaltausbruch. Die Gewalt ist in der Familie.

■ 16. 2., Haus der Berliner Festspiele, 19.30 Uhr