WAS BISHER GESCHAH (3)
: Böse Ahnung

Dem Stummfilm bekommt John Zorns brodelnd unbehagliche Klangsprache gut

Gegen die Digitalisierung von Zelluloidfilm mag man ästhetische Bedenken vorbringen, als Archivierungsmethode scheint sie unausweichlich. So jedenfalls die Einschätzung von Ernst Szebedits, dem Vorstand der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, in seiner Ansprache zur ersten internationalen Aufführung der digital restaurierten Fassung von Robert Wienes expressionistischem, 1920 entstandenem Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in der Berliner Philharmonie.

Es sei keine Selbstverständlichkeit, so Szebedits, Klassiker des Weimarer Kinos überhaupt noch vorgeführt zu bekommen. 80 Prozent der Filme von damals seien verloren, man müsse die Digitalisierung also als „Rettungsaktion“ betrachten: Wenn in naher Zukunft keine herkömmlichen Projektoren mehr in den Kinos stünden, würde der nicht digitalisierte Teil des Filmerbes von der Leinwand verschwinden.

Auch Rainer Rother, Leiter der Retrospektive, lobte die digitalen Verfahren im Allgemeinen als immensen Fortschritt und die vom Restaurierungslabor L’Immagine Ritrovata in Bologna mittels 4K-Verfahren hergestellte Version des „Caligari“ als „hervorragend restaurierte Fassung“. Zum ersten Mal habe man alle vorhandenen Materialien verwendet, die unter anderem aus Berlin, Montevideo, Bologna, New York und Brüssel zusammengetragen wurden. In derart klaren Bildern zumindest bekam man den Film zuvor nicht zu sehen. Besonders die abgefilmten Buchseiten und die Tagebuchnotizen der Titelfigur überzeugten in gestochen scharfer Qualität. Doch auch die exzentrisch verwinkelten Kulissen zur verschachtelt erzählten Geschichte um einen Somnambulen, der unfreiwillig zum Serienmörder wird, kamen durchgehend gut zur Geltung. Die Vorführung war ebenfalls in musikalischer Hinsicht eine Weltpremiere. Im Auftrag von ZDF und Arte hatte der New Yorker Avantgarde-Jazzmusiker und Komponist John Zorn einen Soundtrack erarbeitet, den er an der Karl-Schuke-Orgel der Philharmonie nach eigenen Themen improvisierte. Seinem vor allem in den achtziger und neunziger Jahren erworbenen Ruf als Enfant terrible gemäß absolvierte Zorn seinen Auftritt in Kapuzenpulli und Camouflage-Hose.

Zorn, bekannt geworden durch schroffe Brüche zwischen Jazz, Pop, Metal und Neuer Musik, die bei ihm wie unverbunden nebeneinanderstehen, hat sich mit den Jahren geschlosseneren Formen zugewandt. Auch die Musik zu „Caligari“ gestaltete er weitgehend homogen mit atonalen Clustern, Liegetönen im tiefsten Bassregister.

Das Schrille der Bilder übersetzte Zorn in dissonante Klänge, ein brodelndes Unbehagen, in dem die böse Vorahnung als Leitmotiv diente. Dem Film bekam diese Klangsprache gut, selbst wenn man sich hier und da einige ästhetische Kontraste gewünscht hätte, um die dramatische Wirkung noch stärker zu erhöhen. TIM CASPAR BOEHME