Die Essenz einer Lebensgeschichte

VERWISCHTE BIOGRAFIE André Siegers Dokumentarfilm „Souvenir“ über den verschwundenen Hobby- und SPD-Politiker Alfred Diebold (Forum)

Diebold hat sein Leben selbst wohl als eine Art Film betrachtet

In interessanten Dokumentationen auf der Berlinale stehen Fundstücke und ihre Repräsentanz im Mittelpunkt. Der rumänische Filmemacher Corneliu Porumboiu zieht in „The Second Game“ ein Fußballspiel als politisches Zeugnis heran, während Philip Widmann in dem Perspektive-Beitrag „Szenario“ ein alter Koffer als Ausgangspunkt für seine Recherchen über eine weibliche Biografie in der Bundesrepublik der 70er Jahre dient. Die Mühen der Repräsentanz sind bei Widmann vergleichbar mit der Arbeit in einem Steinbruch: Er muss erst Chroniken und zeitgenössische Statistiken heranziehen, um den anonymen Briefen aussagekräftige Allgemeingültigkeit abgewinnen zu können.

André Siegers hat in seinem Found-Footage-Film „Souvenir“ ein anderes Problem. Ihm stehen über 400 Stunden filmische Selbstzeugnisse zur Verfügung, aus denen er so etwas wie die Essenz einer Lebensgeschichte herausarbeiten muss. Alfred Diebold – selbst erklärter Demokratie-Exporteur, Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung, Amateurfilmer und Hobbypolitiker – verschwand in der Silvesternacht 2009 spurlos von einem Kreuzfahrtschiff im arktischen Meer. Sein mysteriöses Verschwinden bedeutet für Siegers jedoch keine dramatische Zuspitzung, die ihn zu einer investigativen Materialexegese beflügelt, sondern einen relativ willkürlichen Schlusspunkt. Mehr als den Werdegang Diebolds interessiert Siegers das Selbstbildnis eines Mannes, der mit geradezu obsessiver Leidenschaft sein eigenes Leben inszeniert hat.

Diebold hat dieses Leben selbst wohl als eine Art Film betrachtet. Er dokumentierte seinen Wahlkampf als schwäbischer SPD-Kandidat für das Europaparlament („Albanien in die EU!“), inspiriert von Andreas Dresens „Herr Wichmann von der CDU“, den er 2003 als Filmkritiker der Heidenheimer Zeitung gesehen hat, filmte seine Reisen als Stiftungsrepräsentant, die Urlaube mit Freundin Betti und produzierte dazwischen todernste politische Lehrfilme über Demokratie und Marktwirtschaft. In dem Konvolut an Filmmaterial entdeckte Siegers auch Interviews mit Franz Müntefering, Helmut Schmidt und dem früheren US-Verteidigungsminister Robert McNamara.

„Souvenir“ bekommt durch die Materialfülle von Diebolds Nachlass eine faszinierende biografische Unschärfe. Als filmisches Tagebuch taugt vieles nur bedingt, der Mensch Alfred Diebold tritt kaum hinter den Inszenierungen hervor. Möglicherweise ist dies auch Siegers’ Montage geschuldet, die auf dramatische Gewichtungen verzichtet. Die Krankheit Bettis, die vor der Kamera über ihren bevorstehenden Tod spricht, wird nur beiläufig thematisiert. Siegers sucht mit „Souvenir“ nicht nach Hinweisen auf einen etwaigen Freitod Diepolds. Doch die Distanz der Aufnahmen gibt den Blick frei auf die Brüchigkeit eines Lebensentwurfs. ANDREAS BUSCHE

■ 15. 2., Cinemaxx 7, 19.30 Uhr