wildeisens lesezeichen
: Ballade über das Unheimliche

Mit hintersinnigen Illustrationen setzt Jens Thiele Goethes „Erlkönig“ in Szene

Alter: ab 6

Inhalt: Ob in Gedichtsammlungen oder in der Schule, jeder ist ihm schon begegnet: Johann Wolfgang Goethes „Erlkönig“. Die Ballade erzählt vom nächtlichen Ritt eines Vaters mit seinem Sohn. Im Fieber sieht der Junge seltsame Gestalten. Während der Vater seinen Sohn mit Erklärungen zu beruhigen versucht, steigert sich die Angst des Jungen zur tatsächlichen Bedrohung.

Leserausch: Balladen erzählen bildreich und bewegt Geschichten. Deshalb eignen sie sich, um Kinder mit Dichtung vertraut zu machen. Balladen muss man vorlesen. Wer aber liest Kindern heute noch Gedichte vor? Viel eher greifen Eltern zum Bilderbuch. Über Inhalt und Bilder kann man schließlich reden. Dass Eltern und Kinder oft aneinander vorbeireden, ist Thema des „Erlkönigs“. Jens Thiele setzt die unterschiedlichen Wahrnehmungen von Vater und Sohn mit expressiven Collagen in Szene. Aus gerissenen Fotos und bunten Papierfetzen bastelt er Nebelschleier und alte Bäume, die zum Erlkönig und seinen tanzenden Töchtern werden. Diese Materialien regen die Fantasie an und wirken oft gruselig. Indem Thiele auf seinen Bildern dünne Wände wie Kulissen arrangiert und des Erlkönigs Mutter in der Pose einer Diva zeigt, wird das Unheimliche performativ: alles bloß Theater!? Nach dem Schrecken der letzten Gedichtzeile – „In seinen Armen das Kind war tot“ – hat Thiele noch ein Schlussbild angefügt: Der Junge steht am Strand, vor ihm ein azurblaues Meer mit Wolken, auf denen fröhliche Kinder sitzen. Ein Mädchen in Rüschenkleid wirft ihm einen Ball zu. Potter-Faktor: 4

Wissensdurst: Ob der Junge am Ende im Himmel oder im Reich der Fantasie angekommen ist, wissen wir nicht. Aber Thieles Schlussbild lässt mehr Hoffnung zu als Goethes Ballade. Goethe hat in der Gestalt des Jungen die Welt der Fantasie gegen die nüchterne Vernunft des Vaters gesetzt. Auf die Folie der 225 Jahre alten Ballade zeichnet Thiele seine Botschaft: Bilderbücher sollten keine künstliche Welt fernab jeder Lebensrealität vorgaukeln, sondern auf symbolische Weise Konflikte ansprechen. Das Potenzial von Bilderbüchern besteht darin, dass Erwachsene mit Kindern ins Gespräch kommen können. Gelingt es einem Illustrator, kindliche Vorstellungswelten und Gefühle zu berühren, können Gespräche zwischen Erwachsenen und Kindern möglich werden, für die sonst Zeit und Worte fehlen. Pisa-Faktor: 4

Ein besonderes Bilderbuch für Kinder und Erwachsene! Wildeisen-Punkte: 4 SARAH WILDEISEN

Johann Wolfgang von Goethe: „Erlkönig“, mit Bildern von Jens Thiele. Verlag Bibliothek der Provinz, 2007, 15 €