„Lehrer fahren Taxi“

PERU Weil der Staat bessere Lernchancen nicht ermöglicht, verlangt Salomón Lerner mehr zivilgesellschaftliche Bildung

■ war Rektor der peruanischen Päpstlichen Uni und leitete die Wahrheitskommission, die die Menschenrechtsverletzungen unter Präsident Fujimori untersuchte.

INTERVIEW KNUT HENKEL

taz: Herr Lerner, Peru landete beim Pisa-Test 2000 auf dem letzten Platz. Dann kaufte die Regierung Laptops für alle Schulkinder. Wie steht es denn um die Bildung in Peru?

Wir stehen vor einem Dilemma. Das Bildungssystem in Peru ist sehr schlecht – und das ist der optimale Nährboden für ideologische Abenteurer, Fundamentalisten und Blender. Unser schlechtes Bildungssystem ist auch ein Grund dafür, dass viele Jugendliche frustriert sind, weil sie nicht weiterkommen. Im Inland gibt es zu wenig Perspektiven, und im Ausland haben sie kaum eine Chance, weil sämtliche Indikatoren darauf hinweisen, dass die Qualität der Bildung in Peru zu wünschen übrig lässt.

2007 gab es einen Lehrertest, das Ergebnis war schlecht. Hat sich danach etwas geändert. Wird der Bildung mittlerweile Priorität eingeräumt?

Das Ergebnis dieses Tests war niederschmetternd. Nur ein Bruchteil der Lehrer bestand ihn, über 90 Prozent erhielten ein „mangelhaft“ oder „ungenügend“. Allerdings ist das nur eine Seite der Medaille, denn auch an den Universitäten des Landes sieht es alles andere als gut aus. Wir haben in Peru mehr als einhundert Universitäten, auch die Qualität der Lehre lässt zu wünschen übrig. Die Dozenten sind längst nicht immer gut vorbereitet für den Lehrberuf. Zudem stehen wir vor einem weiteren Problem, denn ein stetig wachsender Teil dieser Universitäten wurde aus ökonomischen Motiven gegründet – es sind Bildungsunternehmen.

Das klingt so, als ob sich das Land aus bildungspolitischer Perspektive im Kreis dreht?

Ja, weil die Ausbildung der Lehrenden den Anforderungen hinterherhinkt. Viele Lehrer und Dozenten sind frustriert, weil sie vom dem Gehalt nicht leben können, sie müssen nebenbei Taxi fahren, um über die Runden zu kommen. Auf allen Ebenen ist es offensichtlich, dass wir neue Impulse in der Bildungspolitik benötigen. Dazu gehört auch, dass wir in Peru endlich begreifen müssen, dass nicht alle Anwälte oder Ingenieure werden müssen, um akzeptiert zu werden und weiterzukommen. Das ist eine alte Mär, die dazu geführt hat, dass viele Jugendliche eindimensional denken und ihr Potenzial kaum ausschöpfen. Besagte Berufe gelten als Fahrstuhl des sozialen Aufstieg.

Gibt es denn Initiativen zum Wandel in der Ausbildung?

Der Staat muss Maßnahmen ergreifen, um das Bildungssystem von Grund auf zu reformieren und für mehr Qualität in der Bildung zu sorgen. Da sind sich alle Experten einig, und es fehlt nicht an Ideen und Konzepten, wohl aber am politischen Willen, der Bildung Priorität einzuräumen. Zwar gibt es einen nationalen Bildungsplan, der Maßnahmen vorschlägt, die zur Lösung der Bildungsmisere führen sollen und auch können, er wird aber nicht umgesetzt. Ich weiß nicht, ob so etwas auch in anderen Ländern denkbar ist, aber hier schieben wir das Problem seit Jahren vor uns her.

Peru landete beim Pisa-Test im Jahr 2000 auf dem letzten Platz von 43 Nationen. Hat das die Politik nicht in Zugzwang gebracht?

Doch durchaus, aber Investitionen in die Köpfe sind nicht gerade populär. In Peru werden die Leute beklatscht, die etwas Sichtbares auf den Weg bringen. Eine Schule kann man anschauen, die gestiegene Kompetenz der Lehrer nicht. Die Politiker, die etwas Greifbares vorzuweisen haben, auch wenn dabei Mittel veruntreut werden, werden beklatscht. „Klauen, aber schaffen“ ist dafür ein charakteristischer Spruch. Aus der leidgeprüften peruanischen Perspektive ist das besser als die Politikergattung des „Klauen und nichts schaffen“. Das ist eine direkte Folge der Vergangenheit, denn Alberto Kenya Fujimori, der heute wegen Korruption und schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis sitzt, hat einst die Parole ausgegeben „Dächer – keine Worte“ . Unermüdlich hat er das Land bereist, um Schulen, Brunnen und Straßen einzuweihen, und so ein Klima des vermeintlichen Aufbruchs zu schaffen. Aufgrund des Mangels an Bildung haben die Leute ihm geglaubt, und bis heute hat er zahlreiche Anhänger.

Also lautet ihr Konzept: Bildung als Basis für mehr Kontrolle von unten?

Exakt, da müssen wir ansetzen, denn de facto funktioniert unser politisches System nicht. Ein Beispiel ist das Justizsystem, welches immer öfter nach ökonomischen Kriterien von Kauf und Verkauf funktioniert. Da kann man die besten Gesetze der Welt haben, wenn man die politische Einflussnahme nicht verhindern kann, ist das für die Katz. Die Abgeordneten kümmern sich um ihre eigenen Vorteile, besitzen Aktien der großen Unternehmen und agieren oft wie Lobbyisten. Das geht es manchmal wie auf dem Basar zu. Es wird ausgelotet, wer am meisten für einen Gefallen zahlt. Das läuft auch parteiübergreifend, und gleichzeitig häufen sich die Herausforderungen für die Zukunft – nicht nur im Bildungs-, sondern auch im Gesundheitsbereich. Gesundheit und Bildung drohen zu einem Privileg derjenigen zu werden, die genug Geld haben, um dafür zu zahlen.

Eine Folge des neoliberalen Modells, dem Alberto Fujimori anhing und das seine Nachfolger weiterverfolgten?

Ja, aber Peru braucht eine deutlich nachhaltigere Politik, und Voraussetzung dafür ist ein Qualitätssprung in der Bildung. Peru lebt derzeit ausschließlich von der Plünderung seiner natürlichen Ressourcen. Das ist nicht sehr zukunftsweisend, und ohne Bildung wird es uns nicht gelingen, eine kritische Zivilgesellschaft aufzubauen. Wenn Sie mich fragen, wie viele Peruaner die Verfassung gelesen haben, dann antworte ich Ihnen: 0,0001 Prozent. Doch ein Mensch, der sich nicht seiner Rechte bewusst ist, kann auch nicht für seine Rechte eintreten. Folglich leben wir nach den Gesetzen des Dschungels, nach dem Gesetz des Stärkeren. Genau deshalb plädiere ich für mehr zivilgesellschaftliche Bildung.