Wenn Mütter den Sex ihrer Kinder planen

AUFKLÄRUNG? Rogner & Bernhard haben mit „Make Love“ ein neues aufregendes Buch über Sex herausgebracht. Es bringt vaginale Leckmuster und sexuelle Geschmacksproben – für Erwachsene, aber nicht für Pubertierende

■ ist Diplom-Psychologin und an einer Erziehungsberatungsstelle tätig. Sie leitet Gruppen für Eltern pubertierender Jugendlicher, für junge Mädchen und für Kinder von Eltern, die sich getrennt haben. Raffauf ist Autorin vieler Erziehungsratgeber und Aufklärungsbücher, zuletzt „Pubertät heute: Ohne Stress durch die wilden Jahre“. (Beltz, 2011)

VON ELISABETH RAFFAUF

Es handelt von Selbstbefriedigung, vom ersten und vom zweiten Mal, von der sexuellen Identität und von Geschlechtskrankheiten: „Make Love – ein Aufklärungsbuch“. Wer es liest, bekommt Informationen zu Fragen wie „Ab wann ist Sex erlaubt?“ und „In welchen Ländern rasieren sich junge Frauen und Männer die Haare in welchen Körperregionen“. Zwischendurch kann man gucken, welcher Flirttyp man ist: Jäger, Casanova, Romantiker oder Schmetterling. Dann folgen „Leckanweisungen“ für Oralsex. Das Ganze geschrieben von zwei Frauen im Mütteralter – im Imperativ: „Fass dich an!“ Oder: „Nimm dir beim Lecken Zeit!“, lauten die Aufforderungen. So weit, so egal.

Das Buch würde so durchgehen, ein Aufklärungsbuch, das wie schon viele vor ihm versucht, elterlichen Aufforderungen wie „Fass da nicht hin“ entgegenzuschreiben. Es würde so durchgehen, wenn nicht die angepeilte Leserschaft die Jugendlichen wären.

In der Süddeutschen erzählt eine der Autorinnen, die Hamburger Sexologin Ann-Marlene Henning, stolz von dem Bericht einer Mutter, die sich selbst als „ganz coole Mutter“ sieht. Sie habe es mit „Make Love“ geschafft, ihrem Sohn ein anerkennendes „Yo“ abzuringen.

Für Jugendliche vor dem ersten Sex soll das Buch sein. Der findet laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Schnitt heute mit 16 statt – also ist „Make Love“ für die 12- bis 15-Jährigen. Da hat die Sache einen Haken: Denn die 12- bis 15-Jährigen, das ist sicher, interessieren sich nicht für Leckmuster. Natürlich beschäftigen auch sie Fragen wie „Wie geht Sex?“ und „Was muss ich da machen?“. Aber noch spannender sind in diesem Alter Fragen, die die Liebe betreffen: „Was soll ich tun, wenn er im Kino meine Hand berührt“ oder „Was, wenn sie mir in der Eisdiele lang in die Augen schaut?“.

Jugendliche wollen nicht von Frauen im Alter ihrer Mütter zu bestimmten „Stoßrichtungen“ beim Sex ermutigt werden. Von der Unterstellung, dass sie all ihr Wissen aus Pornos im Internet beziehen und das dort gezeigte „Wieselficken“ für ihren eigenen Sex übernehmen – wie es die Autorinnen des Buches suggerieren –, würden sich die Jugendlichen gründlich distanzieren. „Mama, wir sind doch nicht notgeil“, kriegen Eltern zu hören, die mal genauer hinhören. Und vor allem: „Eltern geht die Sexualität der Kinder nichts an.“

Mir machen übereilige Mütter Sorgen, die, sobald die Tochter den ersten Jungen mit nach Hause bringt, in Aktionismus verfallen: „Meiner 13-Jährigen habe ich jetzt die Pille besorgt, wie kann ich sicherstellen, dass sie sie auch jeden Tag nimmt?“ Oft sehen diese Bevormunderinnen nicht, dass die beiden selbst vom Küssen noch weit entfernt sind. Übergriffige Mütter, die auf das anerkennende Lob ihrer Söhne schielen und nicht davor zurückschrecken, ihnen eine Betriebsanweisung für „coolen Sex“ zu servieren, lassen mich ebenso erschaudern.

Die Autorinnen haben sich gründlich in der Generation vergriffen. Aber warum? „An der Jugend arbeitet die Gesellschaft ihre Defizite ab“, stellt Klaus Farin, der Leiter des Archivs der Jugendkulturen fest. Daher lautet die eigentliche Frage: Wer möchte hier was lernen? Und: Wer wird vorgeschoben, damit man selbst in der Deckung bleiben kann?

Der Verlag hat noch eine andere Erklärung für das „Muss“ dieses Buches parat: „Eine erfüllte Sexualität ist ein Synonym für Lebensqualität.“ Wie ist das zu verstehen? Der Perfektionismus ist auch in der Sexualität angekommen? Nichts wird dem Zufall überlassen, Eltern dirigieren die Kinder und Jugendlichen durch den Tag, kutschieren sie überallhin, planen ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Karriere – und jetzt auch ihre Sexualität?

Das ist auch eine Form von Missbrauch. „Meine Mutter hat mitbekommen, dass ich onaniert habe und hat das mit einem wohlwollenden Lächeln kommentiert“, zitieren die Männerforscher Rainer Neutzling und Dieter Schnack in ihrem Buch „Kleine Helden in Not“ einen jungen Mann, der fortfährt: „Später hatte ich Mühe, die wohlwollenden Blicke meiner Mutter von meinem Penis zu vertreiben.“ Deshalb zwei Plädoyers an alle Eltern, Sexforscher und -forscherinnen. Erstens: „Lassen wir der Jugend ihr Recht auf altersgemäße Fehler.“ Und zweitens: „Empfehlen wir ‚Make Love‘ für Erwachsene ab 30.“ Die können daraus vielleicht Interessantes lernen.

Zitate der Jugendlichen aus dem Buch „Pubertät heute“