Neues Schulkonzept: Eine Note sagt gar nichts

In Bayern hat ein Gymnasium das Konzept sogenannter „Lernlandschaften“ eingeführt. Skepsis und Begeisterung halten sich die Waage.

Gegen die Bildungspolitik wird häufig protestiert. Das Gymnasium in Oettingen tut lieber etwas dagegen und führt ein neues Schulkonzept ein. Bild: Christian Ditsch/version-foto.de

OETTINGEN taz | Freitagmittag, letzte Stunde. An Bayerns Gymnasien chillen sämtliche Schülerinnen und Schüler mental hinein ins große Leben: Sommer, Sonne, Wochenende! Sämtliche? Nicht die 5 d des Albrecht-Ernst-Gymnasiums (AEG) in Oettingen.

Es ist schon zehn vor eins, aber alle sitzen im Kreis, auf kniehohen, samtigen Würfeln, auf eiförmigen Gebilden oder einfach auf dem Boden und blicken gebannt auf das Plastiktütchen in der Mitte. Lateinlehrerin Claudia Langer, Direktorin der Schule, kniet davor und fischt einen Vokabelzettel nach dem anderen heraus. „Fide“? – „Res?“ – „Reglare?“

Je fünf Schüler in zwei Reihen eifern darum, wer zuerst die deutsche Entsprechung weiß. An einem Wandbord führen zwei Mädchen eine Strichliste. Die Tüte saugt die Blicke an, als wäre sie eine Zauberkugel und Professor Dumbledore würde gerade Harry Potter den Weg zum nächsten Horkrux lesen. Dann der Gong. „Valete Discipuli!“ – „Vale Magistra!“, und fröhlich hüpfen und laufen die Discipuli vorbei an der Magistra ins Freie. Niemand schaut auf das Wandbord. In der Lernlandschaft am AEG interessiert nicht, wer besser ist. Hier kommt es darauf an, gut zu sein.

Es hat sich herumgesprochen, dass in Oettingen so ziemlich alles anders läuft als an den übrigen Gymnasien des Freistaats. Aus Bielefeld, aus Chemnitz, aus Stuttgart, aus Hof und aus Bamberg sind sie angereist, um ein Blick in die Zukunft des gymnasialen Lernens zu erhaschen.

Anfang März waren auch die Bildungspolitiker des Landtags zu Besuch. Renate Will (FDP) resümierte: „Man sieht, dass man viel mehr machen kann, als man denkt.“ Georg Eisenreich (CSU) erklärte gar, dass es „zu den Kernaufgaben“ gehöre, „das individuelle Lernen, das sich jedem Kind und seinen Eigenheiten einzeln widmet, zu fördern“. Auch der Kultusminister hat einen Blick riskiert. Nach Auskunft der Schulleitung des Ernst-Gymnasiums hat Ludwig Spaenle „nichts dagegen – solange der Lehrplan eingehalten wird“.

Bienenstock des Lernens

Zu Besuch an diesem Freitag ist auch eine Delegation von Eltern, Lehrern und Leitern eines Allgäuer Gymnasiums. Wie allen anderen Besuchern hat Langer ihnen eingeschärft, dass sie jederzeit kommen können, dass sie nie stören. Weil da ja auch kein normaler Unterricht abläuft, mit einem Lehrer an einer Tafel und 25 Kindern, die still sitzen und lauschen. Hier lernt man in „Lernlandschaften“.

Nun stehen die Besucher also in einer Art Bienenstock des Lernens, umschwirrt von eifrigen Schülern, die von Lernangebot zu Lernangebot sausen und sich holen, was sie gerade brauchen. Um ein Forum herum sind wabenartig vier Klassenzimmer gruppiert. Keine Türen, die Wände bestehen größtenteils aus Glas und Regalen, die sich zum Forum hin öffnen.

Sie enthalten sämtliche Lernmaterialien. Die Tische bestehen aus dreieckigen Elementen, die lassen sich jederzeit mühelos zu Zweier-, Dreier-, Vierer- oder auch Achtertischen zusammenstellen. Tafeln? Fehlanzeige. Stattdessen tragen immer wieder Schüler leichte Wandbords in der Gegend herum und hängen sie an eine durchgehende Leiste, gerade dahin, wo sie sie gerade brauchen.

Worüber die Besucher besonders staunen: Obwohl an diesem Freitag gleichzeitig vier fünfte Klassen lernen, drei Latein, eine Mathematik, obwohl die Schüler herumsausen, in Grüppchen auf Polstern lümmeln, immer wieder auch im Klassenzimmer zusammenfinden, ist es ziemlich ruhig. Kein Wunder: Man geht auf Teppich, und die Decke ist durchgehend gedämmt.

Zudem gilt die Regel, an die Frau Langer in ihrem freundlichen, aber stets verbindlichen Ton erinnert, als sie gerade wieder einen der Klassenräume verlässt: „Ihr wisst, 30 Zentimeter!“ Das heißt: Unterhaltet euch nur so laut, dass man euch nur in 30 Zentimeter Entfernung noch hören kann! So kann sie ohne schlechtes Gewissen eine Lerngruppe aufzusuchen, der sie die Aufgabe übertragen hatte, eine bestimmte Genitivform zu erarbeiten, um sie den Mitschülern zu erklären.

Nervöse Gäste

Die Allgäuer Delegation ist hin- und hergerissen zwischen Begeisterung und Skepsis. Manche der Lehrer bleiben so reserviert, wie es Lehrer nun mal sind, die nicht gern alles in Frage gestellt sehen, was sie selbst tun. Immer wieder stecken sie die Köpfe zusammen. Einer der Besucher krittelt: „Mathe läuft hier auch nicht so anders ab!“

Ein Latein-Lehrer meint: „Die Präsentation war schon ein bisschen zäh!“ Der andere Gymnasialkollege sagt: „Hier gibt es eine Phase mehr selbstständig Arbeiten und eine Phase weniger Input. Na ja, da müssen halt die Rahmenbedingungen stimmen.“ Und das mit den Intensivierungsstunden am Nachmittag, in denen jeder mit den anwesenden Lehrern aus unterschiedlichen Fächern individuell an seinen eigenen Fragen arbeiten kann, dieses „Lernbüro“, das habe er mit den Schülern eines Sportinternats „schon vor 15 Jahren gemacht“.

Das alles gibt es längst, klar. In der Laborschule Bielefeld, an der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Und dort haben Langer und Schmalisch auch hospitiert. Irgendwann nach den ersten Pisa-Veröffentlichungen war der Leidensdruck einfach zu groß geworden. Unterrichten, Hausaufgaben geben, Abfragen, Proben schreiben, Noten geben – und am Ende alles wie weggeblasen. Und immer derselbe Stoff für alle, dieselbe Prüfung zur selben Zeit. Obwohl doch „bei 30 Schülern 30 unterschiedliche Gehirne arbeiten“, wie Langer sagt.

Schmalisch erklärt den Allgäuern: „Wenn ich in einer Fünften 30 Kinder einen Aufsatz schreiben lasse, müsste ich erwarten können, dass sie alle gut bis sehr gut abschneiden, sie sind ja mit einem Schnitt von 2,33 oder besser ans Gymnasium gewechselt. Ich bekomme aber alle Noten von 1 bis 6. Das reicht von ’kriegt kaum einen geraden Satz aufs Blatt‘, bis ’hervorragend‘.“

Mindmaps und Verzahnung

Seit zwei Jahren schon kommt in Oettingen in Bayern, Landkreis Donau-Ries, nicht mehr der Stoff zu den Kindern, vorgetragen von den Lehrern, die Kinder kommen zum Stoff, den die Lehrer genauestens vorbereitet haben. Der Stoff der verschiedenen Fächer ist in den Wand-Schubkästen farblich nach Aufgabentypen sortiert. Auf Wochenplänen halten die Schüler fest, was sie können müssen, und was sie noch lernen könnten.

Zu jedem Arbeitsblatt gibt es ein Lösungsblatt, mit dem Schüler vergleichen können. Auf Mindmaps ist die Verzahnung des Jahresstoffs aller Fächer aufgezeichnet, jederzeit einsehbar für jeden. Da wird in Deutsch nicht einfach nur Storms „Schimmelreiter“ gelesen, da wird gleichzeitig in Geografie eine Karte von Norddeutschland gebastelt, da fragt man sich in Physik, was es bedeutet, wenn der Graf sagt: „Der Deich ist zu steil!“

Und mit geradezu diebischer Freude gibt Schmalisch vor den Allgäuern eine Anekdote zum Besten, die den Unsinn von Noten belegen soll: Fragt er doch einmal einen Achtklässler seiner Schule, was so ansteht. Sagt der: wahrscheinlich ’ne Geschichts-Ex. Ein paar Tage später trifft ihn Schmalisch wieder. Und, wie ist’s gelaufen? Der Schüler: „Wir haben gar keine Ex geschrieben – umsonst gelernt.“ Schmalisch hebt die Stimme, um seiner Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen: „Umsonst gelernt! Weil es keine benotete Prüfung gegeben hat!“

In der Fünften und Sechsten des Albert-Ernst-Gymnasiums, und seit Beginn des Schuljahres auch in der Siebten, kommen die Schüler von allein zur Lehrkraft und lassen sich eine Prüfung geben, wenn sie meinen, den geforderten Stoff zu beherrschen. Wenn es dann nichts wird, dann haben sich die Schüler offensichtlich überschätzt und geben nicht dem Lehrer die Schuld.

Die Besucher lauschen Schmalisch, der inmitten der diskutierenden, lesenden, puzzelnden Kinder postuliert: „Die Note sagt gar nichts!“ Es sei wie mit dem Führerschein: Ein Erwachsener meldet sich doch auch erst zur Prüfung, wenn er sich fit fühlt hinterm Steuer und nicht, wenn der Fahrlehrer es allen befiehlt. Da muss einer der Besucher denn doch nachhaken: Wie schneiden die denn in den Jahrgangstests ab? Solche Fragen bringen auch Langers Temperament zum Kochen: „Auf das Vergleichen kommt es doch überhaupt nicht an! Der Schnitt ist bei uns ganz normal. Wichtig ist das Lernen selbst, und das läuft hier ganz anders.“

Null Unterrichtsausfall

Auch für die Lehrer. Bisher seien sie es, für die Schule gemacht ist, klagt Schmalisch, sie würden den Stoff in- und auswendig beherrschen, wenn sie ihn ein paar Jahre lang unterrichtet haben. Doch für die Schüler fängt das Problem schon mit dem dauernden Stillsitzen und den ewigen Fächerwechseln im nervtötenden Dreiviertelstunden-Rhythmus an.

In den Lernlandschaften am AEG dauern Stunden daher eineinhalb Stunden. Und weil die Inhalte miteinander verzahnt sind, müssen sie kollegial ausgearbeitet werden. Alles steht dann aber auch jederzeit allen zur Verfügung. Und innerhalb von zwei Jahren ist noch nie Unterricht ausgefallen. Wenn, wie an diesem Freitag, ein Kollege krank ist, unterrichtet Langer, oder wer auch immer da ist, eben drei Klassen gleichzeitig. In Lernlandschaften kann so etwas funktionieren.

Gerade hat sich eine von drei fünften Klassen, denen Langer die E-Deklination nahebringt, im Forum um sie geschart und gibt die eigenen Beobachtungen wieder. Als zwei Jungen aufstehen, um was trinken zu gehen und ein anderer ins Klassenzimmer schlendert, beendet Langer die Sitzung abrupt und gibt Aufgaben für die Arbeit in kleinen Gruppen. Den Besuchern erklärt sie: „Es hat gar keinen Sinn, mit dem Stoff weiterzumachen, wenn sie nicht mehr können. Dann muss man halt was anderes machen.“ Hier ist man so frei.

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