Im Land der Verführbaren

DIKTATUR, WAS IST DAS? Eine Studie zum Geschichtswissen von Schülern offenbart große Lücken: Sie haben wenig Ahnung von der DDR und von der Nazi-Zeit. Schuld sind laut dem Autor der Studie die Lehrer als „Mitläufer des alten Systems“. Geschichtslehrer widersprechen

„Die Verführer haben Humanismusgequatsche bestens drauf“

KLAUS SCHROEDER, SED-FORSCHER

VON KRISTIANA LUDWIG

Besorgniserregend klingen die Ergebnisse. Nur die Hälfte der Jugendlichen aus neunten und zehnten Klassen wussten, dass es sich beim Nationalsozialismus um eine Diktatur handelte. Für die DDR klappte dies gerade bei jedem Dritten. Selbst die alte Bundesrepublik West war den Schülern nicht viel besser bekannt: Bloß jeder zweite Schüler kreuzte Demokratie an, als er nach Westdeutschlands Staatsform gefragt wurde.

Die Studie stammt vom „Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin“ und enthüllt große Lücken im Geschichtswissen von Schülern aus fünf Bundesländern. Unterstützt durch die Bundesregierung sowie die Länder Baden-Württemberg und Bayern wurden knapp 7.500 Jugendliche befragt. Autor Klaus Schroeder hat ihr ob der drastischen Resultate einen nicht minder erschreckenden Titel gegeben: „Später Sieg der Diktaturen?“ hat er sein Werk genannt.

Als Konsequenz aus seinen Erkenntnissen gibt Schroeder nun Empfehlungen für den Geschichtsunterricht. Seine Kernforderung: Schulunterricht dürfe nicht prinzipiell ergebnisoffen sein. Gerade das Fach Geschichte müsse wertorientiert vermittelt werden – und zwar im Sinne einer Erziehung zur Demokratie: „Das haben die Lehrer nicht kapiert“, sagt Schroeder: „Ergebnisoffen bedeutet eigentlich, dass nur im Rahmen der Verfassung unterrichtet werden darf.“

Schroeder ist derzeit der wohl schärfste Kritiker von deutschem Geschichtsunterricht. Bereits vor fünf Jahren hatte dessen Forschungsverbund SED-Staat Schüler zu ihren Kenntnissen über die DDR befragt und kam zu einem ähnlich verheerenden Fazit. Auch damals wussten die Jugendlichen erschreckend wenig über die Vergangenheit. Der Deutsche Geschichtslehrerverband ist trotzdem nicht alarmiert, sagt deren Vorsitzender Peter Lautzas: Denn der Forscher Schroeder argumentiere an der Praxis vorbei. „Schroeder hat eine universitäre Schreibstubenperspektive“, meint Lautzas. Begriffe wie Demokratie und Diktatur seien für Fünfzehnjährige zu abstrakt.

Lautzas gibt ein Beispiel: In seinem Unterricht habe sich ein Schüler echauffiert, in Deutschland in einer Diktatur zu leben – nur weil er einem Polizisten seinen Ausweis zeigen musste. „Ihm fehlt die Lebenserfahrung“, sagt Lautzas.

Der Oberhistoriker sagt, dem Geschichtsunterricht mangele es häufig an Nachhaltigkeit und an Wiederholungsphasen. Doch die Werturteile, die Schroeder fordert, könne kein Lehrer ohne eine kritische Diskussion der verschiedenen politischen Systeme vermitteln. Und das sollte auch niemand.

Ähnlich sieht das der Hamburger Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries. Er hatte Schroeders Vorgängerstudie kritisch untersucht. Borries Ergebnis: Methodisch fragwürdig. Die Ergebnisse der aktuellen Diktaturen-Studie von Schroeder hält Borries indes für plausibel – und zugleich für wenig erstaunlich: Über das Versagen von Schule gebe es ähnliche Studien in anderen Fächern und anderen Ländern. Trotzdem sollten alle Unterrichtsinhalte weiterhin im Dialog vermittelt werden, fordert Borries: „Sonst wird Geschichte zum Gesinnungsfach.“

Schroeder stelle mit seinen Forderungen nach Wertorientierung im Geschichtsunterricht den sogenannten Beutelsbacher Konsens infrage, so sieht es Borries. Die in den siebziger Jahren getroffene Vereinbarung gilt als Leitlinie für politische Bildung in Deutschland. Sie schreibt neben der „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ für Schüler auch die kontroverse Auseinandersetzung mit Politik im Unterricht vor.

„Wer demokratische Erziehung fördern will, darf konträre Meinungen nicht sofort sanktionieren“, sagt auch Annegret Ehmann. Sie ist Publizistin für Geschichtsdidaktik und bildet Lehrer im Umgang mit der DDR- und NS-Vergangenheit weiter. Bei der Holocaust-Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz war sie an der Planung beteiligt. In der Schule wie in Gedenkstätten, sagt sie, müsse das Prinzip gelten: Erkundung statt Führung.

In der Kritik an seiner Studie spiegele sich ein alter Didaktikerstreit wider, sagt hingegen der Politikwissenschaftler Schroeder: Soll Schule Kompetenzen vermitteln – oder Faktenwissen. Er selbst sei Verfechter von Grundkenntnissen. So fragte er die Teenager in seinen Fragebögen etwa nach dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag, einem „sozial-politischen Erfolg“ der Nationalsozialisten und den Geschehnissen am 8. Mai 1945. Lautzas vom Geschichtslehrerverband sagt: „Schülern in der neunten Klasse reicht es zu wissen, dass 1945 der Zweite Weltkrieg vorbei war.“

Der von Schroeder vorgeschlagene Lehrstil führe allein zu Wissen über Institutionen, sagt Geschichtsfortbilderin Ehmann: „Wer demokratische Erziehung fördern will, muss Schule schon entsprechend organisieren.“ Wichtig sei es, Kindern Einfühlungsvermögen und Respekt beizubringen, bei Diskriminierung im Schulalltag einzugreifen und bereits in der Familie und im Kindergarten darauf zu bestehen, die Meinung des anderen zu akzeptieren.

Schroeder hält davon gar nichts. „Dieses Humanismusgequatsche haben sie doch bestens drauf, die Verführer“, sagt er. Viele Lehrer sind in seinen Augen keine überzeugten Demokraten. Gerade in den neuen Bundesländern fänden sich Mitläufer aus dem alten System.

Allerdings geben Schroeders eigene Ergebnisse auch Hoffnung für die Zukunft der verführten Jugend. Sein Forschungsteam hatte den Schülern im Rahmen der Diktaturen-Studie Beschreibungen von fiktiven Staaten vorgelegt, mal mit totalitärem, mal mit demokratischem Charakter. Hier bevorzugten die Jugendlichen liberalere Staaten. Das hat Schroeders Team überrascht. Eine solch demokratische Haltung sei nach der Faktenbefragung, schreiben die Wissenschaftler, „so nicht zu erwarten“ gewesen.