Lernen wir für unser Leben – oder für den Job?

PISA-KRITIK Mit der ersten Pisa-Studie hat sich ein ökonomisches Konzept von Bildung in ganz Europa und über alle Bildungsbereiche ausgebreitet. Das darf nicht sein, sagen Pisa-Kritiker. Das führt zur Emanzipation der Menschen, sagen die anderen. Das eine geht nicht ohne das andere, meinen unsere Autoren

VON HENNING SCHLUSS
UND SUSANNE TSCHIDA

Spätestens seit dem Jahr 2001, als die Ergebnisse von der ersten Pisa-Studie veröffentlicht wurden, ist unübersehbar geworden, dass etwa ein Viertel der 15-Jährigen in den deutschsprachigen Ländern nicht sinnerfassend lesen kann. Diese Bildungsarmut wird meist sozial vererbt. Dieser Befund hat seitdem erhebliche Betriebsamkeit ausgelöst. Wirklich bezweifelt werden konnte er nicht. Vielmehr haben alle nachfolgenden Untersuchungen ihn im Grunde bestätigt und lediglich im Promillebereich Veränderungen sichtbar gemacht.

Der Befund war vor allem deshalb ein Schock, weil er von unserer Vorstellung einer weitgehend realisierten Bildungsgerechtigkeit nicht viel übrig ließ. Nachdem Georg Picht Ende der 1960er Jahre die „Bildungskatastrophe“ diagnostiziert hatte und namhafte Soziologen wie Ralf Dahrendorf einstimmten, war nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich im Bildungsbereich unbestreitbar viel geschehen. Die Zahl der AbiturientInnen stieg dramatisch an, Hochschulzugangsberechtigungen wurden liberalisiert, Studiengebühren abgeschafft, Universitäten ausgebaut, ein Fachhochschulwesen etabliert. Das alles waren unzweifelhaft goldene Jahre für das Bildungswesen – auch wenn die HochschullehrerInnen nicht aufhörten, über die vielen Studierenden und das sinkende Niveau zu klagen.

Aus letztlich nicht klar nachvollziehbaren Gründen war es ausgerechnet die Untersuchung zum Programme for International Student Assessment (Pisa), die um die Jahrtausendwende die deutschsprachigen Länder aufrüttelte. In anderen teilnehmenden Staaten ist die Untersuchung kaum bekannt. Pisa wirkte hierzulande wie eine vierte narzisstische Kränkung. Dem Selbstbild einer Nation, die Bildungsprivilegien abgeschafft hatte und allen gleiche Bildungschancen ermöglichte, wurde unvermittelt das Fundament entzogen.

Eine durchaus verbreitete Reaktion auf diese Diagnose war daraufhin, den Boten der schlechten Nachricht für die schlechte Nachricht selbst haftbar zu machen. Pisa wurde immer wieder vorgeworfen, Bildung vor dem Hintergrund ihrer ökonomischen Verwertbarkeit zu verstehen und damit der Ökonomisierung des öffentlichen Gutes „Bildung“ Vorschub zu leisten. Das stärkste Argument dafür fand sich im Auftraggeber der Studie selbst, der OECD, als der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit der Staaten. In der Programmatik von Pisa selbst wird festgehalten, dass Basiskompetenzen erfasst würden, „die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind“. Allerdings – so die Kritik – würde sich die Praxis von Pisa fast ausschließlich auf die ökonomische Dimension reduzieren. Das müsste nicht weiter beunruhigen, wenn Pisa nicht zur Maxime einer umfassenden Bildungsreform geworden wäre. Die sie nicht etwa auf einzelne Staaten beschränkt, sondern richte über Bologna und Lissabon, über Europäische Referenzrahmen, Bildungsstandards und Zentralmatura das gesamte europäische Bildungssystem von der Kinderkrippe bis zur Hochschule an eben diesen ökonomischen Erfordernissen aus. Ein solcher Kompetenzbegriff unterbiete nicht nur, sondern negiere den europäischen Bildungsgedanken, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelt habe: dass das Subjekt sich mit seiner Welt in Beziehung setzt und diese Auseinandersetzung auf sich selbst zurückwirken lässt – und es dabei seine unbekannte Bestimmung allererst entdeckt und entwickelt.

Die Pisa-Befürworter hingegen hielten kühl dagegen: Endlich werde der schwammige Bildungsbegriff, der sich an einer unklaren Vervollkommnung des Subjekts orientiere, dessen Ziel jedoch vollständig unbekannt bleibe, auf handhabbare Kompetenzen heruntergebrochen. Das Können, das die Bildungsreform à la Pisa anziele, sei universal einsetzbar und dennoch fachspezifisch konkretisierbar. Es befähige den Menschen in unterschiedlichsten Situationen zum Handeln.

Bereits im Zuge der Bildungsreform der 1970er Jahre wurde Kritik an deren ökonomischer Ausrichtung geübt. Sie liefern noch heute Argumente, die über diesen unversöhnlich scheinenden Dualismus hinausführen. Inspiriert von der Marx'schen Ökonomiekritik und Geschichtsphilosophie, interpretierte Heinz-Joachim Heydorn die Bildungsreform seiner Zeit als vom wirtschaftlich-politischen Komplex motiviert. Die Profitinteressen des Kapitals im fortgeschrittenen Kapitalismus könnten nur noch dann verwirklicht werden, wenn immer besser ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung stünden. Die Wirtschaft sei aber keineswegs an der Bildung des Individuums in einem emanzipatorischen Sinne interessiert, sondern an hinreichend qualifizierten Arbeitskräften.

Während noch zu Beginn der industriellen Gesellschaft eine rudimentäre Ausbildung hinreichend war, um die Produktivkräfte zur Wertschöpfung des Kapitals zu befähigen, seien die Ansprüche der modernen Industrie so komplex geworden, dass sie ohne eine umfassende Ausbildung gar nicht mehr einlösbar wären. Zudem würden diese Anforderungen noch weiter zunehmen, weil die Beschränkung auf spezielle Fähigkeiten kontraproduktiv ist und Wertschöpfung nur noch durch die Kreativität der ArbeitnehmerInnen zu erreichen ist, durch selbstverantwortete Mitarbeit und Verantwortungsübernahme. All dies sind aber Eigenschaften, die mit einem schlichten Ausbildungskonzept nicht zu erreichen sind, das sich noch auf das Einüben von bestimmten Fertigkeiten beschränken konnte. Damit wird eine dermaßen umfassende Ausbildung notwendig, dass die Selbstbildung des Individuums zwar nicht angestrebt, aber nahezu unvermeidbar wird. Emanzipation kann damit für Heydorn als ungewollte Nebenfolge von umfassenden Ausbildungsnotwendigkeiten kaum verhindert werden, weil erworbene Fertigkeiten auch anders als in den ursprünglich angestrebten Kontexten eingesetzt werden können.

In Bezug auf die gegenwärtige Phase der Bildungsreform kann dieser dialektische Gedankengang Heydorns aus dem Entweder-oder von einer den Menschen reduzierenden ökonomieorientierten Ausbildung auf der einen Seite und den Menschen über sich selbst aufklärenden Bildung auf der anderen Seite hinausführen. Man wird nicht bestreiten können und müssen, dass die gegenwärtige Bildungsreform zumindest auch eine ökonomische Dimension hat. Es ist auch nicht zu bestreiten, dass dieser ökonomischen Dimension zentrale Bedeutung zukommt. Es ist ja nicht prinzipiell verwerflich, dass SchülerInnen dazu befähigt werden sollen, einmal für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können.

Es ist allerdings ebenso unzweifelhaft richtig, dass die anderen im Pisa-Konzept genannten Motive der Bildungsreform, gesellschaftliche Teilhabe und persönlich befriedigende Lebensführung, ein stärkeres Gewicht bekommen sollten. Auch könnte eine politische Dimension der Bildungsreform stärker in den Blick rücken – dass nämlich demokratische Gesellschaften auf Bildungsgerechtigkeit angewiesen sind, weil Herrschende und Beherrschte prinzipiell dieselben sind und damit gerechnet werden muss, dass die Untertanen von heute morgen regieren, wie bereits Rousseau wusste.

Aber diese Motive stehen keineswegs zwangsläufig gegen die schwergewichtigen ökonomischen Motive, denn das ökonomische Interesse, sowohl des Individuums als auch der Industrie, ist auf ein kreatives, verantwortungsvolles umfassend gebildetes eigenverantwortliches Subjekt gerichtet.

Zunehmend wird deutlich, dass auch dieser Zwang zum Selbstmanagement in neue Problematiken führt, deren Folgen noch nicht klar abschätzbar sind. Dennoch aber steht dieser ökonomische Zwang zur Individualisierung nicht mehr, wie die alten ökonomischen Zwänge der Ausbildung, zwangsläufig konträr zum allgemeinen Bildungsgedanken.

■ Henning Schluß ist Professor für Bildungsforschung und Bildungstheorie an der Universität Wien. Susanne Tschida ist Universitätsassistentin an der Arbeitseinheit für Bildungsforschung und Bildungstheorie an der Universität Wien. Gemeinsam leiten sie das Projekt „KOMBI“ zur Evaluation von Veränderungen in Schule und Unterricht im Zuge der Einführung der Neuen Reifeprüfung.