Normalzeit
: HELMUT HÖGE über und unter teilnehmender Beobachtung

„Wenn man mehr als 40 Brücken gebaut hat, ist einem nichts und niemand mehr fremd“ (Friedrich Krause, Berliner Stadtrat und Ingenieur)

Beim neugierigen Umherschweifen trifft man manchmal auf seltsame Dinge beziehungsweise Ereignisse: in der Ausländerbehörde am Weddinger Friedrich-Krause-Ufer zum Beispiel auf den ziemlich unzufriedenen Angestellten einer Wachfirma, der den Ausländern Geld für den Fotokopierer wechselt. Auf der Toilette entdeckte ich zudem zwei arabische Hockklos mit Edelstahleinfassung – ein integrativer Fortschritt, der jedoch mit einem Rückschritt auf der anderen WC-Seite einherging: Dort wurden zur gleichen Zeit die Deckel bei den deutschen Sizklos abgeschafft.

Im Tiergarten stieß ich auf ein altes Haus mit Reitdach, das nicht erst seit gestern als „Teestube“ für die gehobene Mittelschicht fungiert – ich jedoch zuvor dort noch nie gesehen hatte. Auch der Kiosk vom Haus der Kulturen der Welt am Spreeufer ist für mich neu. Er sieht aus wie der Traumkiosk eines Architekten – bei dem man jedoch befürchten muss, dass er etwas unpraktisch ist.

An einer anderen Stelle der Spree – in Kreuzberg, Höhe Eisenbahnstraße – stehen 15 Demonstranten und 6 Pressefotografen am Ufer. Plötzlich kommen fünf Schlauchboot-Ninjas mit Motorboot angefahren und entrollen ein Transpart auf einer Insel, die mal ein Brückenpfeiler war. An dieser Stelle soll wieder ein Brücke gebaut werden – die Demonstranten wollen jedoch, dass sie nur noch für Fußgänger und Radfahrer da ist.

Auf der Skalitzerstraße haben Unbekannte mit weißer Farbe den ganzen Fußweg mit Parolen gegen die neue Kreuzberger McDonald’s-Filiale und die ständige Ausweitung der Rinderzucht auf Regenwaldböden bemalt. Gegen Letzteres hatte bereits Ende der Achtzigerjahre jemand mit großen weißen Buchstaben auf den Yorckbrücken Stellung bezogen. Noch ein Stück weiter an der Spree soll angeblich ein großes Ufergrundstück besetzt worden sein. Es gehört dem umtriebigen Architekten Müller beziehungsweise einer seiner „Wertkonzept“-GmbHs. Er will dort ein Einkaufszentrum errichten, so groß wie anderswo drei. Vielleicht ufern die Randale bei Mall-Eröffnungen, wie zuletzt beim Mediamarkt im Alexa, immer mehr aus, und schon bald könnten die ersten Einkaufszentren bei der Eröffnung völlig demoliert werden, wobei sich östlicher Hooliganismus und westlicher Konsumrausch dauerhaft verbinden.

Auf dem Gelände an der Schlesischen Straße angekommen, sitzen dort jedoch wie immer nur einige Angler. Die „Besetzer“ haben bloß das Bauschild überklebt und sind wieder abgehauen. Nun steht dort, dass sie gegen diese Form von menschenfeindlichem Stadtumbau protestieren. Derweil wurden vier Leute verhaftet, die das wirklich provokative McDonald’s-Schild an der Straße mit Kastanien beworfen hatten, woraufhin sich eine kleine, aber angemeldete Demo von etwa 40 Leuten bildete, die gegen McDonald’s skandierte.

Auch der Heinrichplatz, die Mitte von SO 36, hat etwas Protestierendes an sich, obwohl dort die Menschen nur vor den Cafés auf der Straße sitzen, die Sonne genießen, Bier trinken und sich unterhalten beziehungsweise Vorbeigehende beobachten. Man weiß, dass sie sich nur so friedlich geben. Es bräuchte bloß ein Mannschaftswagen kommen, mit Polizisten, die rausspringen, um die ganzen Müßiggänger vom Platz zu verscheuchen – „schon wäre da der Teufel los“, wie der Streifenpolizist im Kiez, Petzold, sich einmal ausdrückte.

In der Wiener Straße kleben Flugblätter der Grünen, auf denen zu einer Diskussion eingeladen wird mit den Vorstehern der Moschee, die demnächst am Görlitzer Bahnhof eröffnet. Den multifunktionalen Sakralbau mit der schönen Platane auf dem Platz davor bezeichnen die Grünen etwas herabwürdigend als „Bolle-Moschee“, weil dort zuletzt eine Bolle-Filiale stand, die am 1. Mai 1987 erst geplündert und dann abgefackelt wurde.

Dieser 1. Mai war nicht zuletzt deswegen in Kreuzberg so militant geraten, weil just an diesem Tag Ramadan zu Ende ging, so dass zwei feierwütige Pulks zusammenströmten: Die Gegend um die brennende Bollefiliale war noch Stunden später „bullenfrei“, wie einer der Beteiligten, der es inzwischen bis zum Staatssekretär – oder so was Ähnliches – gebracht hat, sich ausdrückte. Er meint, dass die Grünen mit dieser despektierlichen Wortschöpfung bloß den alten linken mit dem neuen islamischen „Drive“ verknüpfen – also letztlich „etwas Überbrückendes“ leisten wollen.