Karneval der Kulturen: Fiepen im Ohr, Samba in den Beinen

Neun JurorInnen bewerten beim Karneval der Kulturen die Teilnehmer der Karawane - diesmal sind es 102 Gruppen mit 4.500 Menschen. Ein schwieriger Job

Karneval der Kulturen in Berlin Bild: Reuters

14 Uhr. Die Sonne strahlt über Kreuzberg. Vor gut einer Stunde haben sich die TänzerInnen der deutsch-brasilianischen Gruppe Afoxé Loni, die seit 1997 die Karawane des Karnevals der Kulturen anführt, am Hermannplatz auf den Weg gemacht. In der Tradition des Karnevals von Bahia reinigen sie die Stimmung auf der Straße, auch von Aggressivität. Nun passiert die Gruppe die Zuschauertribüne am Südstern. Neben der Tribüne steht der Container der Jury, hoch aufgebockt, um den drinnen Sitzenden einen besseren Blick zu ermöglichen. Der kleine Container bietet gerade genügend Platz für die neun Jurymitglieder und ein kleines Buffet. Es gibt Wasser mit und ohne Kohlensäure, spendiert von den Berliner Wasserbetrieben, sowie mexikanisches Bier. Draußen blinkt eine rote Lampe: Sie zeigt den Gruppen an, wie lange sie vor der Jury ihr Können zeigen dürfen. Eineinhalb Minuten sind erlaubt. Wer überzieht, wird mit Punktabzug bestraft.

15 Uhr. Die zwölfte Gruppe passiert den Container. Auf der Strecke drängeln sich Fotografen und Kamerateams. Die Jury steht und tanzt. Serbische Folklore, riesige tschechische Teufelspuppen, polnische Keramik-Menschen, Mode aus Müll, gefertigt von SchülerInnen eines Berliner Oberstufenzentrums sowie barbusige Stelzentänzerinnen haben die neun JurorInnen bereits gesehen. Sieben Siegerteams sind zu küren, die drei Besten bekommen jeweils 1.000 Euro. Kategorien sind die Gesamtformation oder der Wagen, außerdem gibt es den Kinder- und Jugendpreis. Stéphane Bauer, Leiter des Kunstraums Kreuzberg, ist diesjähriger Juryvorsitzender - er war bereits letztes Jahr dabei. Dieses Jahr beobachtet er bei den Teilnehmern "noch mehr Engagement: Die Freude ist spürbar größer. Und es sind beeindruckende Kostüme dabei."

Alle anderen Jury-Mitglieder sind neu. Jedes bewertet einen bestimmten Bereich. Für "Gesamtkonzeption" ist Shermin Langhoff zuständig, künstlerische Leiterin des Ballhauses Naunynstraße. Favoriten hat sie noch nicht, aber: "Es ist toll, welchen Aufwand die Gruppen treiben."

16.20 Uhr. "Kidz 44", die 36. Gruppe, passiert die Jury. Die SchülerInnen der Neuköllner Kurt-Löwenstein-Hauptschule präsentieren mit Tanz und Rap die Ergebnisse eines Präventionsworkshops - auf einem Polizeiwagen. Am Steuer sitzt ein Polizist. Jury-Mitglied Shermin Langhoff tanzt immer noch. Die Bewertung wird schwieriger, findet sie: "Es sind so viele verschiedene Formen, man kann kaum Vergleiche anstellen. Die Möglichkeiten, die die Gruppen haben, sind ja sehr verschieden."

16.40 Uhr. Auf der Zuschauertribüne neben der Jury sitzt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), vor ihm der Grüne Volker Beck. Der Karneval der Kulturen passe besser zu Berlin als die Love Parade, deren Abwanderung er nicht bedauere, findet der Berliner Thierse: "Kulturelle Vielfalt statt Kommerz!" Beck muss vorsichtiger formulieren - sein Wahlkreis ist die Mutterstadt des Karnevals, Köln: "Die Kreativität hier ist beeindruckend, auch die Stimmung." Aber der Berliner Karneval habe eben den Vorteil des schönen Maiwetters: "In Köln bringt der Karneval im trüben Februar die ganze Stadt zum Tanzen!"

17 Uhr. Vor der Jury wirbt grün angemalt die Grüne Jugend mit der Initiative 12 Volt für Ökostrom - tanzend zu Punkrock. "Ohne politische Botschaften würde der Karneval verlieren", sagt Jury-Leiter Bauer. "Aber er ist eben auch keine Demo." Shermin Langhoff tanzt immer noch: "Der Karneval ist politisch. Es gibt ein Grundrecht auf Freude!"

17.20 Uhr. Die Berliner Wasserbetriebe offerieren jetzt stärkere Getränke: Es gibt Bitter Lemon. Vor der Jury fordert die Gruppe Rios Profundos: "Keine Kriminalisierung von Immigranten!" Die peruanischen TänzerInnen kommen bei Jury und ZuschauerInnen gut an: Ihre Kostüme sind vielfältig, ihre Tänzerinnen charmant, Maskenträger machen Späße mit dem Publikum. Die Verbindung von Politik und Freude ist stimmig. Auch die nachfolgende Gruppe bekommt viel Beifall: Aus Hellersdorf kommen BauchtänzerInnen, Cheerleader und mit Elefantenmasken verkleidete Kinder, die singen und tanzen. Solche Gruppen zeigten, dass der Karneval immer breitere Kreise der Bevölkerung anspreche, meint die frühere Ausländerbeauftragte Barbara John, die im Publikum sitzt. Sie hat den Karneval von Beginn an miterlebt. Damals lief die Karawane vom Hermann- zum Mariannenplatz - mit 30 Gruppen.

18.30 Uhr. Auch Jury-Mitglied Yashi Tabassomi ist Karnevals-Veteranin. In den ersten drei Jahren ist die Kostümbildnerin selbst mitgezogen. Sie ist für die Bewertung der Kostüme zuständig. Schwierig, denn "die Mittel, die den Gruppen zur Verfügung stehen, sind sehr unterschiedlich." Entscheidend sei die Kreativität: "Fantasievoll Selbstgemachtes ist mir lieber als teuer bedruckte Einheits-T-Shirts."

19.05 Uhr. Die Musik wird lauter. 93 Gruppen hat die Jury nun gesehen. Vor dem Jury-Container tanzen Hunderte von Menschen zu "No woman no cry" hinter dem Wagen des Clubs Yaam her. Im Jury-Container diskutieren der Künstler Ercan Arslan und der Zeichner OL, beide zuständig für die Bewertung der Wagen, ihre Favoriten. "Zu wenig Blondinen!", lautet ein Kriterium OLs. Peter Lund, Professor für Musical an der Universität der Künste und Jury-Bewerter für "Performance der Einzeldarsteller", lässt sich nicht verwirren: "Wichtig ist, dass man spürt, dass die Künstler einem etwas geben wollen."

19.30 Uhr. Die Musik wird noch lauter. An der Jury ziehen die letzten Wagen vorbei: keine Folklore-Gruppen mehr, sondern große Trucks, die an die Love Parade erinnern und die Zuschauer zu Hunderten hinter sich her in Richtung des Festes auf dem Blücherplatz ziehen. Wolfgang Thierse ist gegangen. Shermin Langhoff tanzt. Cathrine Milliken, Leiterin des Education-Programms der Berliner Philharmoniker, und Sabine Budde von der Jugend- und Familienstiftung sind für die Vergabe der zwei Kinder- und Jugendpreise zuständig. Favoriten können sie noch nicht nennen: "Es sind einfach zu viele Gute", sagt Budde.

19.40 Uhr. Die Karawane ist vorbeigezogen. Das Publikum zieht hinterher. Erste Absperrungen werden abgebaut. 400 Ordner betreuen den Karneval der Kulturen. Im Jury-Container wird Sekt gereicht. Shermin Langhoff steht still und strahlt: "Das hat Spaß gemacht: eine Party mit Kultur!" Durch das leichte Fiepen in den Ohren wird das Rascheln der Bewertungsbögen hörbar, die von den JurorInnen noch einmal durchgeblättert werden. Ihre Arbeit ist noch nicht vorbei. Am Montag, dem letzten Tag des Festes, wird ihr Urteil verkündet.

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