Der Budensammler

STADTMOBILIAR Jon von Wetzlars Leidenschaft sind Imbissbuden. Er hat Buden-Touren organisiert, Buden-Bücher herausgegeben. Jetzt arbeitet er an einem Buden-Archiv. Würste brät er aber lieber selbst

„Wenn se so richtig verranzt sind, so richtig dreckig, dann is wirklich schön!“

JON VON WETZLAR ÜBER BUDENHYGIENE

VON DIANA AUST

Er liebt Dreck. Je mehr, desto besser. In seiner Wohnung im 13. Stock liegen 300 dreckige Imbissbuden. Buden mit Spuckschutz, Buden mit Wurstwärmern, Buden mit überquellenden Mülleimern vor den Stehtischen. Sie stehen nicht in seiner Wohnung am Platz der Vereinten Nationen, sie liegen. Manchmal als Farbfoto auf dem Wohnzimmertisch. Immer als Datei auf dem Computer. Hier haben sie Obdach gefunden. Im Rest von Berlin herrscht Anarchie.

Aus Jon von Wetzlars Küche zieht kräftiger Bratwurstgeruch durchs Wohnzimmer. Er hat gekocht. „Um mich einzustimmen“, wie er sagt. Autor, Erfinder, Lebenskünstler – Jon von Wetzlar ist vieles, aber vor allem eines: Imbissbudenarchivar. Wie eine perfekte Imbissbude für ihn auszusehen hat, damit hält er nicht lange hinterm Berg und seufzt: „Wenn se so richtig verranzt sind, so richtig dreckig, dann is wirklich schön!“ Das Beuys-Poster an der Wand, die Loriot-Statuette auf dem weißen Bücherregal – und dieser Bratwurstgeruch? Wo ist der zum Kochmief passende Dreck? Wo das Auge verweilt: Schönheit. Auch für von Wetzlar ist das ein Widerspruch. Der Wurstliebhaber mit dem runden Bauch und dem grau-blonden Schnäuzer, der seine Lippen verdeckt, schaut amüsiert durch die schwarze Karl-Lagerfeld-Brille und sagt: „Mein größter Wunsch ist es, in den Berliner Imbissbuden eine gute, schmackhafte, schöne, appetitliche Currywurst zu bekommen. Das widerspricht natürlich meinem Grundbestreben, gerade diese verranzten Buden schön zu finden.“ Er braucht den Dreck. Leben will er darin nicht. Essen will er ihn schon gar nicht. Ein nicht ganz unkompliziertes Verhältnis zwischen ihm und den Buden. Fast wie bei einem alten Ehepaar.

Der Mittfünfziger sammelt alles, was mit Imbissbuden zu tun hat, von Fotos über Accessoires bis zu Doktorarbeiten. Zu von Wetzlars Bibliothek gehört etwa „Kiosk. Entdeckungen an einem alltäglichen Ort – vom Lustpavillon zum kleinen Konsumtempel“ von der Buden-Veteranin Elisabeth Naumann, die das Grundlagenwerk mit über 70 Jahren schrieb. Seine Leidenschaft kam eigentlich beiläufig. Bei einem Spaziergang fiel ihm auf, dass immer weniger Imbissbuden in der Innenstadt stehen. In dem Moment wurde die Idee zum Imbissbudenarchiv in ihm gesät. An seinem Frust lag es aber auch, wie er sagt: „Ich hatte es satt, immer dieses ‚Drei Damen vom Grill‘-Niveau mit der Imbissbude in Verbindung zu bringen. Wenn bei irgendwelchen Events gefragt wurde: Wer macht die beste Currywurst in Berlin?, hieß es immer: Günter Pfitzmann und Brigitte Mira.“ Leiser fügt er hinzu: „… diese alte Westberliner Mischpoke.“

Jon von Wetzlar geht es bei den Imbissbuden zwar vor allem um die „Architektur im Kontext des urbanen Stadtraums“, aber beim Thema Wurst dreht er auf. „’ne Currywurst spricht für sich, dazu brauch ick ein frisches, warmes, knackiges Brötchen, und dann is jut.“ Wenn ihm etwas am Herzen liegt, berlinert von Wetzlar besonders stark. Es sei eine Unsitte, den Geschmack durch Beilagen wie Kartoffelsalat oder Pommes zu verfälschen: „Bäh!“ Er selbst bereitet leidenschaftlich gern alle Arten von Wurst zu und weiß auch viel darüber. Beispielsweise dass die beste Wurst darmlos ist. Erfunden hat das Rezept ein Fleischermeister aus Thüringen, als nach dem Zweiten Weltkrieg Därme knapp waren. Er stopfte die Masse in einen Gartenschlauch und brühte sie.

Vor ihm auf dem Wohnzimmertisch liegt ein schmuddeliges Prachtexemplar, die „Kiffer-Bude Berlins“, wie von Wetzlar einen seiner Lieblingsimbisse nennt. Knalliges Blau-Gelb, ein Häuschen an der Potsdamer Straße, versteckt hinter wuchernden Zweigen. Von Wetzlars sonore Stimme wird meditativ, ein Bild steigt auf: Kiffer scharen sich in Sommernächten um die jamaikanische Bude, süßlicher Duft hängt in der Luft, Bionade und Longdrinks machen die Runde, exotische Reggaemusik liegt wie ein dumpfer Traumgesang über allem. Von Wetzlar seufzt ergriffen. „Dit hat mir jut jefallen“, flüstert er durch seinen Schnurrbart hindurch. Er kennt sie alle, die Imbissbuden Berlins. Doch wenn eine erst einmal weg ist, dann ist sie weg. Niemand wird sich mehr an sie erinnern. „Wer fotografiert schon ’ne Imbissbude?“, fragt von Wetzlar. „Kein Mensch! Das ist, als ob du Fahrradständer fotografierst.“

Früher schrieb Jon von Wetzlar Fernsehbeiträge für den MDR. Heute jobbt er ab und zu in einem Kiosk eines Freundes am S-Bahnhof Friedrichstraße, Bahnsteig D. Damit er dem Budengefühl ein bisschen näher ist. „Dit is schon ’ne Leidenschaft, muss ick janz ehrlich sagen“, sagt er in dieser ganz sanften Stimme, die seine Stimmbänder ölt, wenn er ins Schwärmen gerät. „Dit is so ’ne eigene Welt. Man hat Stammkunden und Laufkunden. Ein Stammkunde an der Imbissbude zeichnet sich dadurch aus, dass er sitzen darf.“ Von Wetzlar lacht und wippt mit seinem Bauch.

Die Imbissbuden haben ihn nicht losgelassen. Er gründete die Agentur „Urbane Anarchisten“, er schrieb ein Buch über die Kultur der Imbissbude, organisierte Ausstellungen, machte ein Imbissbuden-Memoryspiel. Und nun das „Deutsche Archiv Imbissbude“. Hauptquartier: seine Wohnung über den Dächern Berlins. Das Archiv besteht jetzt aus 300 Fotografien. Zusammengetragen von seinem Freund und Fotografen Christoph Buckstegen oder zugeschickt von Imbissbuden-Amateuren. Doch das Sammeln reicht von Wetzlar nicht, er will die Menschen erreichen: „Ich sehe mich weniger als Bewahrer und Sammler denn als Zurverfügungsteller. Wie eine öffentliche Bibliothek.“ In diesem Jahr will er sein Archiv online stellen, das ist der nächste große Schritt. Außerdem plant er eine Wanderausstellung. „Dit soll was Lebendiges sein“, sagt er über sein Archiv. „Rein und raus, bewahren und benutzen.“ Das Benutzen nimmt er dabei wörtlich. Zum Beispiel beim Projekt „Imbiss Erika“, das leider nie das Licht der Welt erblickte. Mit dem Entwurf bewarb er sich 2006 bei der Architekturbiennale in Venedig und kam bis in die Endrunde. Erika, die Imbissbude zum Selberbauen. Wie das Billyregal von Ikea. Zukünftige Budenbesitzer hätten sich für nur 2.000 Euro ihren Arbeitsplatz selbst zimmern können. Eine verrückte Idee, schon wahr. Was sein Archiv betrifft, betont von Wetzlar aber mit fester Stimme: „Es soll nicht in dieser Briefmarkenecke vergammeln, sonst sagen die Leute noch“ – er beginnt zu grummeln – „das ist irgendein Verrückter, der halt alte Fotos sammelt“. Schließlich ist die Bude ein wichtiger Bestandteil der Stadtkultur. Und sein Archiv ein wichtiger Beitrag zur Kulturgeschichte.

Bis vor Kurzem hat von Wetzlar Berlins erste und einzige Imbissbudentour organisiert. Erste Station: Ein roter Lkw mit der Aufschrift „Becker’s Fritte“. Ein nativer Imbiss – in von Wetzlars Terminologie: Der Bedienstete steht, vor Wind und Wetter geschützt, drinnen, der Kunde friert draußen. Dafür kann er hier das crossover cooking genießen, Gerichte aus fremden Ländern wie zum Beispiel belgische Fritten. Zweite Station: Der Rundgang führt am Friedrichstadtpalast vorbei zur Rückseite des Bahnhofs Friedrichstraße. „Check Point Curry“ ist ein entwickelter Typ des Containerimbisses. Der Kunde kann hier unter einem Schirm Obdach suchen, gefroren wird trotzdem. Weiter geht’s zu einem Highlight Unter den Linden: dem Architekten-Imbiss, entworfen vom Architektenbüro Kleihues. „Dit sieht aus wie ein Schlachtschiff“, sagt von Wetzlar über den ovalen Metallklotz. „Dit is wie ein Tampon, der durch den Stadtraum glitscht, dit hat sowas Glibberiges und Stromlinienförmiges.“ Ginge es nach von Wetzlar, sollten Architekten „gefälligst die Hände von der Imbissbude lassen“. Nach einem kleinen Abstecher zum „Imbiss am Lustgarten“ vor der Ruine des Palasts der Republik – einem definitiven Imbiss, in dem sich die Kunden drinnen sogar auf Barhockern aufwärmen können – endet die Tour an der einzigen runden Bude Berlins: der „Berliner Currywurst“ an der Zimmerstraße, einer knallroten Box. Sie wirbt mit einem lebensgroßen, eine Currywurst essenden Bären mit Gabel in der Pranke.

Doch mit der Tour ist vorerst Schluss. Die Imbissbuden sind verdrängt, verkauft, verschwunden. Einzig der Architekten-Imbiss steht noch. Obwohl Jon von Wetzlar auf den gut verzichten könnte. Rund 2.000 Imbissbuden gibt es in Berlin. Zwar bleibt die Zahl seit Jahren gleich, trotzdem verschwinden die echten Imbissbuden, das heißt die frei stehenden und mobilen. Schuld daran, so von Wetzlar: der Verunstaltungsparagraf der Berliner Bauordnung. Wenn Bauten den öffentlichen Raum verunzieren bzw. verunstalten, müssen sie weg. Und das immer öfter. So werden Buden aus der Innenstadt in die Randbezirke und Seitenstraßen gedrängt, Besitzer in die Insolvenz getrieben. Von Wetzlar argumentiert dagegen: „Ick bin der Meinung, ’ne Stadt muss Dreck aushalten können.“

Eines der wenigen Accessoires in Wetzlars Wohnung, das an seine Leidenschaft erinnert, kramt er aus einem Karton hervor. Ein Buch. Nicht irgendeins. Ein Buch aus Pommes-Pappschalen. Jede Seite eine Pappschale. Die Krönung: eine blaue Plastikgabel auf Seite drei. Fast zärtlich fährt Jon von Wetzlar über die Pappseiten der Pommesfibel und schaut aus dem Panoramafenster seiner Wohnung. Sein Blick schweift über den nebelverhangenen Alex, verliert sich in den Straßen Berlins. Man sieht sie nicht, die 2.000 Imbissbuden, aber sie sind da. Irgendwo da draußen, in einer schmuddeligen Nebenstraße im Großstadtdschungel. Neben einem uralten Kaugummiautomaten, der schon seit Jahren defekt ist. „Die Imbissbude hat eine Widerstandskraft, einen eigenen Willen, der seinesgleichen sucht. Vor allem aber ist die Imbissbude die letzte private Äußerung im Stadtbild.“ Buden sind die urbanen Anarchisten, und wenn Jon von Wetzlar sie schon nicht im wahren Leben retten kann, dann wenigstens in seiner Wohnung. In seinem Archiv.