Die Abrissbagger sind schon in Position

WOHNEN Seit mehr als zehn Jahren kämpfen Mieterinnen und Mieter gegen die Pläne eines Investors, eine 80er-Jahre-Siedlung am Lützowplatz abzureißen. Nun droht ihnen die endgültige Niederlage vor Gericht

„Die Häuser waren von Anfang an schlecht verputzt“

EINE MIETERIN

VON GABRIELA NEUHAUS

Der Postbote hat seine Runde schnell beendet: Die meisten Briefkästen in den Hauseingängen am Lützowplatz 2–18 sind zugeklebt. Nach Einbruch der Dämmerung dringt nur noch aus vereinzelten Fenstern warmes Licht nach draußen. In der einst so lebendigen Anlage in Tiergarten, die in den 1980er Jahren als städtebauliches und soziales Vorzeigeprojekt gefeiert wurde, leben gerade noch zehn Mietparteien. Ginge es nach dem Willen der Eigentümerin Dibag Industriebau AG, stünde hier, in unmittelbarer Nähe der CDU-Bundesparteizentrale, längst ein hochpreisiges Ensemble mit Hotel, Gewerberäumen und Wohnungen.

Verhindert wurde dies bisher, weil sich Mieterinnen und Mieter vor Gericht gegen ihren Auszug erfolgreich wehren konnten. Seit 2006 wurden alle Kündigungen und Räumungsklagen des Münchner Immobilienkonzerns Dibag, der die Liegenschaften seit zehn Jahren systematisch zu entmieten versucht, zugunsten der Hausbewohner entschieden. Nach der jüngsten Verhandlungsrunde Ende Oktober scheint sich das Blatt nun aber zu wenden: Manfred Hoffmann, der Vorsitzende Richter der Zivilkammer 67 des Landgerichts Berlin, ließ vergangenen Donnerstag keinen Zweifel aufkommen, dass er der Räumungsklage des Eigentümers stattgeben will.

Dabei stützte er sich auf Gutachten, die von der Dibag in Auftrag gegeben worden sind. Sie besagen, dass aufgrund des schlechten baulichen Zustands der Gebäude eine Sanierung wirtschaftlich nicht rentabel sei. Die Gutachten wurden erstellt vom Berliner Büro CRP-Bauingenieure sowie vom inzwischen verstorbenen Architekten Oswald Mathias Ungers. Letzterer hatte den Wohnkomplex am Lützowplatz selbst entworfen.

Mit dem Hinweis auf die renommierten Autoren der Untersuchungen verbat sich der Richter in der Verhandlung jegliche Hinterfragung. „Wollen Sie etwa Herrn Professor Cziesielski unterstellen, er habe das Gutachten gefälscht?“, hielt Hoffmann dem Einwand der Mieteranwälte entgegen, die darauf aufmerksam machten, dass diese Untersuchungen parteiisch wären.

Parteiische Gutachten

Zwei Gegengutachten, die von den Mietern initiiert wurden und Aussagen der Dibag-Gutachten in Frage stellen, wurden vom Gericht unter den Tisch gekehrt. Einzig der Nachweis von Unstimmigkeiten in einem weiteren, vom Gericht in Auftrag gegebenen Gutachten, in dem es um die Plausibilität der von der Dibag vorgelegten Wirtschaftlichkeitsberechnungen geht, verhinderte ein sofortiges Urteil zugunsten der Eigentümerin. Bis Mai kommenden Jahres soll diese Studie nun nachgebessert werden. Allerdings machte der Richter unmissverständlich klar, dass das Kündigungsurteil damit nur aufgeschoben würde – und dass die Mieterinnen und Mieter gut beraten wären, sich auf einen Vergleich mit dem Eigentümer einzulassen.

Damit scheint der Investor aus München erreicht zu haben, wofür er seit Erwerb des Grundstücks kämpft: Bereits 2001 hatte er einen ersten Abrissantrag für die damals gerade mal 17 Jahre alten Häuser gestellt. Die gestapelten Reihenhäuser mit Terrassen und Grünräumen waren im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1984/87 nach Plänen Oswald Mathias Ungers’ errichtet und teils als Sozialwohnungen, teils auf dem freien Markt vermietet worden. Die soziale Durchmischung sowie die architektonische Vision, die hier umgesetzt wurden, machten die Siedlung am Lützowplatz nach Einschätzung vieler Experten zu einem Vorzeigeobjekt, das von Architekturinteressierten aus aller Welt regelmäßig besucht wurde.

„Der Schallschutz und die Wärmedämmung waren für die damalige Zeit einmalig“, sagt eine Bewohnerin der ersten Stunde, während sie durch die vier Zimmer ihrer Maisonettewohnung mit der großzügigen Terrasse führt. Dabei erwähnt sie auch bauliche Mängel: „Die Häuser waren von Anfang an schlecht verputzt. Das führte zu vielen oberflächlichen Rissen. Diese wären allerdings niemals ein Abrissgrund gewesen, denn die eigentliche Bausubstanz war gut“, führt die Bauingenieurin weiter aus.

Für die Dibag – sie hatte die Siedlung 1998 ersteigert und 2001 das Grundstück dazugekauft – waren die Baumängel ein willkommener Vorwand. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Sanierung für sie nie ernsthaft zur Diskussion stand: Der Münchner Investor erkannte das Renditepotenzial des Grundstücks, welches nach der Wende aus einem unattraktiven Randgebiet nahe der Mauer plötzlich ins Zentrum der Stadt katapultiert worden war. Die 84 großzügig bemessenen Wohnungen sollen einer dichteren Bebauung weichen, mit maximaler Ausnützung des Grundstücks. Das war und ist auch im Sinn des Bezirks, der 2008 einen entsprechenden Bebauungsplan gutgeheißen hat.

Der von der Dibag verpflichtete Anwalt machte in der Verhandlung denn auch das Recht auf eine „wirtschaftliche Verwertung“ des Grundstücks geltend: „Was soll schlecht daran sein, wenn man Geld verdienen will?“, fragte der als Mieterschreck bekannte Jurist Klaus Lützenkirchen.

Wütende Mieter

„Für Sie, Herr Lützenkirchen, ist meine Wohnung ein Wirtschaftsfaktor – für mich mein Lebensumfeld“, fasste einer der Mieter die Stimmung unter den Nachbarn zusammen. Der Vorsitzende Richter räumte ein, es stünden in der Tat zwei Grundrechte in Konkurrenz zueinander. Während die bisherigen Urteile gemäß der in Deutschland üblichen Praxis das Recht der Mieterinnen und Mieter auf die Erhaltung ihres Wohnraums höher gewichtet hatten als die wirtschaftlichen Interessen des Immobilienkonzerns, kommt Richter Hoffmann aber zu einem anderen Schluss: Dem Eigentümer stehe es frei, ob und wie er seine eigenen Liegenschaften sanieren wolle.

„Normalerweise wird ein Haus allerdings nicht gleich wieder abgerissen. Wir haben es hier mit einer absoluten Ausnahme zu tun, wie ich sie in den 18 Jahren meiner Tätigkeit an diesem Gericht noch nie erlebt habe“, bekannte der Richter – nicht ohne an die Mieterinnen und Mieter gewandt hinzuzufügen: „Und Sie sind nun halt die Pechvögel, die es trifft.“

Noch ist das finale Wort nicht gesprochen: Am 28. November verhandelt die Zivilkammer 67 die letzte der zehn Räumungsklagen. Zu erwarten ist allerdings das gleiche Resultat wie bei den übrigen neun. Falls sich der Immobilienkonzern und die Mieter anschließend nicht auf einen Vergleich einigen, steht Ende Mai 2012 das nächste Urteil an. Dieses könnte erneut angefochten werden. Damit wäre aber bloß ein weiterer Aufschub erreicht.

Die Zeichen für die einst viel gelobten IBA-Bauten mit den letzten kostengünstigen Wohnungen am Lützowplatz stehen auf Abbruch. Eine entmietete Häuserzeile hat die Dibag bereits plattgemacht, die restlichen Häuser lässt sie weiter planmäßig verfallen.