Das westdeutsche Provinznest Bielefeld ist nicht nur statistische Durchschnittsstadt, sondern auch Vorreiter für allerlei Trends
: Be first, be Bielefeld

Bielefelder Bestseller: „I hate Berlin“

VON HELMUT HÖGE

Wer Berlin begreifen will, muss Bielefeld studieren. Diese westfälische Kleinstmetropole, die ebenso wie Berlin zerbombt wurde, war bis zur Wende die westdeutsche „Durchschnittsstadt“. Und zwar derart statistisch genau real gemittelt, was Klima, Schicht-, Alters- und Geschlechterverteilung, Religion, Schulbildung und Parteienzugehörigkeit betraf, dass alle Warentester und Meinungsumfrager sich guten Gewissens bei ihren Erhebungen auf Bielefeld beschränken konnten, wenn sie zu wahren Aussagen über die ganze BRD kommen wollten. Sogar US-Wissenschaftler suchten mitunter Bielefeld auf, um deutsche „Befindlichkeiten“ vor Ort zu eruieren – etwa die berühmte „German Angst“ und das „Waldsterben“ (im Original deutsch, gemeint war der Teutoburger Wald bei Bielefeld).

Als die SPD beschloss, der langsam ausufernden Studentenbewegung das Wasser abzugraben, gründete sie ein Dutzend „Reformunis“, in der nahezu sämtliche Rädelsführer des SDS Festanstellungen fanden, die besten in der Bielefelder Uni, die man Anfang der siebziger Jahre im Schnellbauverfahren auf der grünen Wiese hochzog – um einen riesigen überglasten Indoor-Campus herum, der schon bald zum Vorbild aller deutschen Einkaufspassagen wurde, namentlich und zuletzt der „Potsdamer Platz Arkaden“. Hier wurde erneut deutlich, wie das Privatkapital alles kopieren und verbessern kann außer dem Sozialen, das in diesem Fall im Bielefelder Indoor-Campus zurückblieb.

Nicht zufällig siedelte sich dort dann der berühmteste deutsche Soziologe, der Lüneburger Niklas Luhmann, an, dessen zentrale Begriffe „System“ (Bielefeld), „Medium“ und „Kommunikation“ heißen. Und in der Tat: In Bielefeld wird kommuniziert wie verrückt. Besonders um diese Jahreszeit, da das gesamte System der innerstädtischen Fußgänger-Einkaufszonen aus einem einzigen Weihnachtsmarkt besteht, den zu besuchen allen Bielefeldern anscheinend süße Pflicht ist – am liebsten in Kleingruppen, die sich mit rotweißen Santa-Claus-Mützen ausgestattet haben, damit sie sich im Gedränge leichter wiederfinden. Da das jedoch immer mehr Kleingruppen tun, ist es immer weniger hilfreich, wie man sich leicht denken kann. Nicht so die Bielefelder, die dieses „Kuddelmuddel“ bloß zu noch mehr „Kommunikation“ aufreizt. Für Luhmann ist sogar die Liebe nur ein „Medium“ der Kommunikation. Tatsächlich scheint der durchschnittliche Bielefelder (eine Tautologie) dieses „Medium“ sogar geringzuschätzen.

Wenn man am Bahnhof ankommt, stößt man bereits auf die zwei neben der Uni größten Beschäftigungsbetriebe der Region: auf das Logo von „Dr. Oetker“ und „Bethel“. Beide werben mit „Kommunikation“: der Behindertenkonzern mit dem Zusammenbringen von Menschen mit den unterschiedlichsten Handicaps und der Backpulverkonzern mit dem Zusammenhalten von Kernfamilien über Süßes.

Während man es anderswo, etwa in Paris, bedauert, dass wir seit Luhmann schier gezwungen sind zu kommunizieren – „Wir dürfen nicht einfach mehr miteinander reden!“, so der Kulturkritiker Jean Baudrillard bitter –,ist es in Bielefeld genau andersherum. Dies hat damit etwas zu tun, das hier die Kommunikation quasi erfunden wurde und allgemein verbreitet ist, während sie zum Beispiel in Berlin komplett arbeitsteilig erledigt wird: von Kommunikationsagenturen, Werbefuzzis, PR-Beratern, Webdesignern und anderem Kreativgesindel.

In den Bielefelder Buchläden stapelt sich deswegen das neue Buch „I hate Berlin“, in dem etwa der Bielefelder Brotdichter Wiglaf Droste über die Hauptstadt vom Leder zieht, dass es nur so seine Bewandtnis hat. Berlin, das ist auch äußerlich nichts anderes als Bielefeld ins Maßlose und Professionelle verstiegen, bis zur völlige Verblödung.

Kommt noch hinzu, dass Bielefeld die Wiege aller Juvenilmoden ist, die der Berliner in seiner Verblendung für New York Fashion hielt und hält: Sue Ellen- und Mecky-Frisuren, Schlag- und Röhrenhosen, Punk, Piercings, Tattoos, Baumscheiben, kurze knappe Jeans, die den Vaginaspalt betonen … Selbst die Berliner Juvenilmode, nächtens mit Beck’s-Bier-Flaschen in der Hand von einer Location zur nächsten zu wandern und dabei laut über Foucault, Derrida, Slavoj Sloterdijk und die neuesten Hollywoodfilme zu reden, stammt ursprünglich aus Bielefeld – nur dass man dort Herforder-Pils-Flaschen umklammert.

Eine bis heute erhaltene Besonderheit der Bielefelder besteht darin, dass sie auf den Fotos ihrer Lokalzeitung Westfalen-Blatt stets ein beschriebenes Blatt, ein Poster, einen Geschenkgutschein, ein Diplom oder eine Protestparole in die Kamera halten, wovon im dazugehörigen Artikel dann ausführlich die Rede ist. Allein in der Ausgabe vom 25. November 2011 finden sich nicht weniger als 25 solcher Fotos. Diese „Bielefelder Redundanz“, wie sie auch genannt wird, hat bewirkt, dass dort das stets und überall dräuende Primat des Bedeutenden über das Bedeutete mit einem „Kunstgriff“ quasi kurzgeschlossen wurde. Alle Achtung!