Ein fast vergessenes Viertel

AUSSTELLUNG In der Fotoschau„Exploring Istanbul“ sind auch Verdrängungsprozesse am Bosporus zu sehen

Gleich am Eingang zum Ausstellungsraum hängt das Foto. Es zeigt ein kleines Mädchen, noch zu jung für die Schule, mit kurzen dunklen Haaren, das im Türrahmen eines rot angestrichenen Hauses steht und in die Ferne blickt. An der bröckelnden Fassade ist zu sehen, dass die Menschen in diesem Haus in ärmlichen Verhältnissen leben: In einem Gecekondu im Istanbuler Stadtteil Kadiköy, wo seit Jahrzehnten Menschen aus Anatolien wohnen, die einst zum Arbeiten in die Metropole kamen und mit dürftigen Mitteln „über Nacht gebaut“ ihre Häuser errichtet haben. Ein fast vergessenes Viertel, unweit des Taksimplatzes, das nun den modernen Hochhäusern für besser betuchte Einwohnern weichen soll. „Sie ist noch zu jung, um zu verstehen, dass ihre Zukunft ungewiss ist“, sagt Kamuran Yenel, eine junge Istanbulerin, die das Foto geschossen hat.

Yenel ist eine von 15 FotografInnen, die vergangenen Oktober an einer Fotoexkursion teilgenommen hat, bei der Istanbul nicht aus der üblichen touristischen Linse dokumentiert werden sollte. Die IT-Expertin ist Hobbyfotografin, ähnlich wie die anderen TeilnehmerInnen, die aus Berlin an den Bosporus reisten und dort auf Fotografen aus Istanbul trafen. „Alltägliches mit einem ästhetischen Blick“ einzufangen sei das Konzept gewesen, erklärt Klaus W. Eisenlohr, Leiter des Projekts, bei der Ausstellungseröffnung am Freitag in der Alten Feuerwache. Viele waren erstmals in der Stadt am Goldenen Horn, aber auch die an der Exkursion teilnehmenden Fotografen aus Istanbul haben viele neue Entdeckungen gemacht. „Obwohl wir nicht weit weg von dort wohnen, haben wir gemerkt, wie wenig wir diesen Stadtteil kannten“, so Hatice Görk. „Exploring Istanbul“ ist auch der Titel der Ausstellung, die in Kooperation mit dem Städtepartnerschaftsverein Kadiköy-Friedrichshain-Kreuzberg und dem Photocentrum Kreuzberg entstanden ist.

Ausgangspunkt für die Fotografien war Kadiköy, wo sich noch heute auch griechische, armenische und jüdische Einflüsse finden lassen. Seit 17 Jahren ist dieser Stadtteil Istanbuls ein Partnerbezirk von Kreuzberg. Anfang der sechziger Jahre entstanden hier die sogenannten Gecekondu-Siedlungen. Lange standen diese Häuser ohne Baugenehmigung, bis in den Neunzigern alteingesessenen Bewohnern Grundstücksrechte zugesprochen wurden. Doch aufgrund der anhaltenden Landflucht sind die Siedlungen weiter gewachsen, sodass längst nicht mehr alle Einwohner einen Anspruch auf Bleibe geltend machen lassen können, wenn große Bauunternehmen in die Bezirke dringen.

Die Gentrifizierung und Vertreibung der wirtschaftsschwachen Bevölkerung in diesen Stadtteilen ist bezeichnend für die aggressive Modernisierungspolitik der Regierung Erdogans. Auf vielen Fotos in der Ausstellung zeigt sich der Prozess, wie Altes dem Neuem weicht: Bauruinen, unvollendete Treppen oder auch ein älterer Deckenflicker inmitten seiner Stoffe, der wohl seinen Job verlieren wird, wenn es das Gecekondu-Viertel nicht mehr gibt. „Nur Menschen, die sich keine moderne Heizung leisten können, brauchen diese dicken Bettdecken, um sich zu wärmen“, erklärt Kamuran Yenel, die auch dieses Foto gemacht hat.

Und auch das Thema „Gezipark“ hat an diesem Abend wieder für Gespräche gesorgt. Vor Kurzem ließ die türkische Regierung ein Gesetz aufsetzen, welches die Befugnisse der Kammer für Architekten und Ingenieure, die den Baustopp im Gezipark erwirkt hatte, beschneiden soll. „Wenn sie das durchkriegen, werden sie endgültig alles plattmachen“, befürchtet eine ältere Besucherin bei der Ausstellungseröffnung. CANSET ICPINAR

■ „Exploring Istanbul“: Alte Feuerwache, Marchlewskistr. 6, bis 16. August, Di.–Do. 14–19 Uhr, Fr., Sa. 14–20 Uhr. Eintritt frei