Gondelperspektiven für Berlin

ARCHITEKTUR Für den diesjährigen Schinkel-Wettbewerb entwarfen junge Architekten neue Stadtteile für das Klingenberg-Areal in Lichtenberg. Heraus kamen mutige Entwürfe, luftige Seilbahnen und grüne Paradiese

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Gondelbahnen kennt man eigentlich aus den Bergen. Vereinzelt gibt es sie auch auf Jahrmärkten zum Pläsier und auf Bundesgartenschauen oder Bauausstellungen, um aus der Luft den besseren Überblick zu behalten. Der Berliner David Hein sowie das Team Hennig, Esiyok, Ehrenreich und Orlandi – alle sind Architekturstudenten an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg – haben noch andere Vorstellungen für Gondelbahnen auf Lager: nämlich als öffentliches Verkehrsmittel für noch schlecht vernetzte und mangelhaft angebundene neue Stadtquartiere, welches zudem Kosten und Platz spart – und weiterhin Spaß macht.

Hein hat seine 3,2 Kilometer lange Seilbahn-Idee rund um die Rummelsburger Bucht über den Plänterwald und bis hinüber zum Kraftwerksgelände Klingenberg gelegt. Die Kapseln schweben über die Spree – bis zum nächsten Stop an einer luftigen Haltestation.

Der Entwurf stellt eine sehr gute „verkehrstechnische und leistungsfähige Anbindung an diesen Ort dar, die landschaftsplanerisch gut eingebunden ist“, lobte die Jury des 160. „Schinkel-Wettbewerbs“ den Gondel-Plan und kürte Hein in der Sparte Architektur zum Sieger 2015.

Einen Anerkennungspreis bekam das Team Hennig und Co. für seine Vision von einer Seilbahn, die auf schwindelerregend hohen Stützen gleich quer über halb Berlin reicht – von Lichtenberg bis zum Tempelhofer Feld. Wuppertals Schwebebahn lässt grüßen. Um zukünftige Personenbeförderungssysteme muss man sich in der Hauptstadt also keine Gedenken machen.

Gelände zum Austoben

Gondeln, Spreebäder, futuristische Bauten und Landschaften, schwimmende Wohnhäuser, ja ganze Stadtviertel gehören zu den 137 Vorschlägen, die für den diesjährigen Schinkel-Preis für Architekten, Städtebauer, Landschaftsplaner und Ingenieure eingereicht wurden. Die avantgardistischen Entwürfe waren kein Wunder. Hatte doch der Architekten- und Ingenieur-Verein Berlin (AIV) zu dem renommierten Nachwuchswettbewerb unter dem Titel „Neuland Lichtenberg“ eingeladen und damit ein Gelände zum Austoben serviert.

Denn „Neuland Lichtenberg“ rückte das riesige Klingenberg-Areal an der Spree südlich des Kraftwerks ins Blickfeld der Planer. Gewerbe, Brachen, Industrien, ein Ufer befinden sich dort gegenüber dem Plänterwald. Zudem war das Thema nicht ohne Kalkül ausgewählt worden, geht das Kraftwerk wohl in zehn Jahren vom Netz und macht eine Fläche für einen ganzen Stadtteil für 20.000 Einwohner frei.

Julian Schäfer, Philipp Hoß und Quang Huy Le von der TU München (1. Preis Städtebau) entwarfen einen solchen kompletten Stadtteil. Drei Wohn- und Arbeitsquartiere gruppieren sich in ihrem Planwerk um einen zentralen Stadt- oder Marktplatz, lassen Sport- und Grünflächen in die Stadtviertel hinein und öffnen sich zur Spree. Es wird richtig Stadt gespielt bei den Münchnern mit Plätzen, Blöcken und starken Architekturen.

Die Jury hat diesen Mut belohnt, der angesichts der realen Berliner Ängstlichkeiten beim Bauen wie ein Statement daherkommt: „Die Arbeit überzeugt durch ein Quartierskonzept, das drei unabhängig entwickelbare Einheiten um ein stark ausformuliertes Zentrum konzentriert. Jede Einheit bindet formal an die im Norden, Süden und Osten angrenzenden Stadtfelder an. Die Ausformulierung der Bautypologien zielt auf eine hohe Dichte ab.“

Die Landnahme von Lichtenberg verwandeln nicht alle Teilnehmer in neue Stadtteile, machen Verkehrslaboratorien daraus oder lassen Architekturutopien mit wie hingewürfelten Wohnmaschinen und Hochhäusern entstehen wie das Projekt „Artefakt“ von Leopold Baier und Aurelien Stettner aus München (Anerkennungspreis). Es gibt auch sehr stille, melancholische Ideen für das Gelände, das nach der industriellen Strapazierung jetzt begrünt wird und quasi ausruhen, „parken“ darf als Uferstreifen, Naturlandschaft, wildes Paradies.

Originelle Ideen

Nach dem Schinkel-Wettbewerb 2014 für die Peripherie rund um die Spandauer Altstadt ist mit dem Thema Lichtenberg dem AIV ein weiterer guter Zug gelungen, Perspektiven für die Berliner Stadtentwicklung zu skizzieren. „Mit originellen Ideen schaffen es die jungen Planer in einer großen Bandbreite aufzuzeigen, wie in dem innerstädtischen Bereich mit Spreelage auf Freiflächen neue lebendige Quartiere gefunden und belebt werden könnten“, unterstreicht das Preisgericht das Niveau der Arbeiten.

Und schließlich: Der diesjährige Schinkel-Wettbewerb war sicher auch mit einem Augenzwinkern in Richtung Berliner Senat gemeint gewesen. Während die Bauverwaltung im Stadtgebiet händeringend nach neuen Flächen für neue Wohnungen sucht, haben die Auslober vom AIV gleich ein dickes Standortbeispiel mitgeliefert, auf das man in der Württembergischen Straße längst hätte kommen können.

Wer an Lichtenberg denkt, sollte nicht mehr nur an Nazis, die Platte oder an die ehemalige Staatssicherheit denken. Es gibt dort noch andere Bereiche.

■ Zu sehen sind die Bauvisionen zum „Neuland Lichtenberg“ noch heute bis 21 Uhr im Foyer der Staatsbibliothek, Potsdamer Str. 33