Voll auf Vinyl

7-Inch Die Schallplatte erlebt gerade ein Revival. Besonders gut lässt sich der Trend im Neuköllner Reuterkiez beobachten

■ Was? Punk, Hardcore, Indie (neu und Secondhand)

■ Wer? Christian „Iffi“ Iffland, 36

■ Warum Vinyl? „Es ist das einzig Existenzielle!“ (Christian)

■ So sieht’s aus: Klein, schlicht, an den Wänden prangen neben den Platten selbst kopierte Punk- und Hardcore-Konzertplakate

■ Was noch? Neben Vinyl gibt es Musikbücher, DVDs, Kassetten und Shirts

VON JENS UTHOFF

Ein rotes Herz aus Vinyl hängt in der Sanderstraße. Genauer: Es baumelt hinter einer Schaufensterscheibe. Dort ist eine Vinyl-Single in Erdbeerrot an ein Gitter gepinnt. Sie ist um einige herzliche Rundungen größer als das übliche 7-Inch-Format. Hinter der Scheibe befinden sich Tausende weitere Scheibe – die meisten in gewöhnlichem Schwarz, mit 33 1/3 oder 45 Umdrehungen pro Minute abzuspielen.

Der Plattenladen Soultrade befand sich bereits in diesem Kiez – dem Reuterkiez – als die Hipsterdebatte noch nicht erfunden und Neukölln noch ein normal heruntergekommener Bezirk war. Seit 1992 gibt es den Shop, der auf Soul, Jazz und Funk spezialisiert ist.

In den vergangenen Jahren sind hier zahlreiche Plattenläden hinzugekommen – dies ist auffällig in dem Ortsteil im Neuköllner Norden. War eine Weile in den 90ern vielleicht der Bergmannkiez die perfekte Trödelmeile für Plattensammler, kann man nun nördlich der Sonnenallee bestens Vinyl shoppen.

Die meisten dieser Läden zogen in der Folge der Entwicklung des einstigen Gründerzeit-Viertels vom Problemkiez zur Hipster-WG hierher. „Hier in der Straße hat sich gar nicht so viel verändert“, sagt hingegen René Röder, Mitbetreiber vom Soultrade in der Sanderstraße. Und im Hinblick auf die Besucherhorden, die durch das Viertel ziehen, sagt er: „Das ballt sich vielleicht eher am Kanal, ich kriege davon nicht so viel mit.“

■ Was? Techno, House, Electronica (vor allem neu)

■ Wer? Markus Lindner, Lovis Willenberg, Tinko Rohst

■ Warum Vinyl? „Vinyl ist wie ein Porsche. Der sieht nach 30 Jahren auch noch gut aus.“ (Markus)

■ So sieht’s aus: Schicke Wandcomics, am Fenster gibt’s eine kleine Sitzecke

■ Was noch? Shirts und Zubehör

Jahre der Stagnation

Neben Soultrade aber haben sich auch die Kollegen von OYE Records, Bass Cadet Records oder Static Shock in der Nähe des Landwehrkanals niedergelassen – die meisten bieten ausschließlich Vinyl an. Fast jedes Musik-Genre hat inzwischen einen Fachladen im Kiez.

Der Grund ist natürlich auch die kleine Renaissance, die das Vinyl in den vergangenen Jahren erlebte. Zwar mag man einwenden: Vinyl macht laut Bundesverband Musikindustrie lediglich 2 Prozent des Jahresumsatzes aller Tonträger in Deutschland aus. Die Entwicklung allerdings ist nach Jahren der Stagnation beeindruckend positiv: 10 Millionen Euro Umsatzplus wurden laut Bundesverband 2013 im Vergleich zum Vorjahr mit Vinyl gemacht. Und was die Wachstumsrate (47,2 Prozent) betrifft, so erreicht von den Musikmedien nur das Streaming im Netz höhere Werte.

Online-Streaming ist allerdings nicht das Medium, mit dem die Kunden bei Static Shock Records – in Spuckweite zu Soultrade eine Parallelstraße weiter – Musik hören. In dem kleinen Verkaufsraum läuft Schrammelpunk, ein Typ geht raus, um eine Tüte zu rauchen, und vor den Grabbelkisten stehen Schwarzgekleidete mit Aufnähern, die billig einige Punk- oder Hardcore-Klassiker schießen wollen.

■ Was? Fast alle Stile, Secondhand, jede Platte 5 Euro

■ Wer? Gerhard Machate

■ Warum Vinyl? „Schallplatten zu hören ist wie Wein trinken. Klar, von Schnaps ist man schneller betrunken, aber mit Wein ist es angenehmer. Platten hören ist die gewollte Verlangsamung.“ (Gerhard)

■ So sieht’s aus: Großer Verkaufsraum, der noch nicht ganz fertig ist

■ Was noch? Kinderecke, viele CDs

„Ich merke von einem Boom nicht so viel“, sagt Christian Iffland, der, ebenfalls mit Mütze, hinter dem Tresen steht. Allerdings sagt auch er: Die Umsatzzahlen entwickelten sich auch bei ihm erfreulich – neben seiner guten Auswahl macht er aber auch die Tatsache dafür verantwortlich, dass sich wieder eine breitere Käuferschicht für Vinyl interessiere.

Iffland betreibt den Shop seit 2009. In einigen Szenen, wie eben im Punk oder Hardcore, Techno oder House, hat Vinyl immer eine große Rolle gespielt. Und doch: „Jetzt kommen ein paar Leute dazu, die es hip finden, hier durch die Läden zu ziehen und alte Rolling-Stones-Scheiben für 5 Euro rauszuziehen“, sagt der 36-Jährige. Soeben war eine junge, schick gekleidete Kundin mit einer Platte von Jagger, Richards und Co. abgezogen. Dass die Vinyl-Käufer fast ausschließlich männlich sind (laut Bundesverband Musikindustrie knapp 95 Prozent), lässt sich nach einem kleinen Streifzug durch den Reuterkiez nicht unbedingt bestätigen.

Warum Vinyl – die Statistik spricht immerhin eine eindeutige Sprache – gerade ein mittleres Revival erlebt, ist zumindest den Fans der schwarzen Scheiben glasklar: Auf die Frage, warum er an der Schallplatte festhalte, antwortet Iffland mit der Gegenfrage: „Woran soll ich denn sonst festhalten?“ Und auch das Haptische, sagen die Ladenbetreiber, spiele eine große Rolle: Vinyl fühlt sich einfach gut an.

■ Was? Alle Arten von Dance Music

■ Wer? Etienne Dauta, 28, und Laura Le Marchand, 29

■ Warum Vinyl? „MP-3 hat keine Seele“ (Etienne

■ So sieht’s aus: Ladenbereich getrennt – im einen Teil gibt es Vinyl, im anderen Schmuck, Klamotten, Parfüm und vegane Körperpflegeprodukte

■ Was noch? Temporäre Foto- und Kunstausstellungen mit Verkauf

Gern wird auch das Argument vorgebracht, dass man bei einem Vinyl-Album sehr bewusst Musik höre: Man klickt eben nicht mal hier oder da schnell in einen Stream rein und dann weiter zum nächsten. Und auch das Stöbern im Plattenladen hat etwas Konzentriertes: „Die Leute kommen zu uns, um sich ein, zwei Stunden nur mit Schallplatten zu beschäftigen, nicht mit Twitter, nicht mit Facebook, nicht mit sonst was“, sagt Markus Lindner, der OYE Records mitbetreibt.

Auch der Laden Lindners hat seit Mitte 2013 eine Filiale im Reuterkiez. Seit Anfang der nuller Jahre gab es ihn bereits in Prenzlauer Berg, mit dem zweiten Shop ist man nun sozusagen der Szene hinterhergezogen: „Viele alte Stammkunden wohnten mittlerweile in Neukölln oder Kreuzberg und kamen nicht mehr so oft zu uns. Nun kommen sie wieder öfter“, sagt Lindner. Den anderen Laden aufgeben wollte man dennoch nicht – auch wenn die vielen Clubs und das Urklientel inzwischen nicht mehr in der Nachbarschaft wohnen.

■ Was? Soul, Jazz, Rock

■ Wer? René Röder, 43

■ Warum Vinyl? „Eine Plattensammlung ist für mich wie so ’ne Art Tagebuch“ (René)

■ So sieht’s aus: Großer Ladenraum, ohne viel Schnickschnack. Die Platten-Cover und schick gestalteten Sondereditionen sind allesamt an den Wänden ausgestellt

■ Was noch? CDs, Magazine, Shirts, Sammlereditionen, einiges Zubehör

Lindner hofft, dass dem nördlichen Neukölln eine Entwicklung wie dem Prenzlauer Berg erspart bleibt. Er spricht von „Kulturvampiren“, wenn er über jene Leute redet, die die annehmlichen Seiten eines Kreativkiezes gern mitnähmen, ansonsten aber bitte ihre Ruhe haben wollten und sich garantiert nicht in irgendeiner Form einbrächten. Davon sei der Reuterkiez weit entfernt. Die Entwicklung hin zum kosmopolitischen Ortsteil findet Lindner angenehm: „Wir sprechen hier manchmal den ganzen Tag nur Englisch, und ich hab auch überhaupt kein Problem damit – das ist mir lieber als alles Provinzhafte.“

Sein Kollege Röder von Soultrade hingegen bekommt von Trends und Chic im Kiez kaum etwas mit – sein Laden ist eher ein Alte-Schule-Schallplattenfachgeschäft. „Wir haben viel Stammkundschaft. Die meisten Kunden kommen nicht zufällig hier rein“, sagt der 43-Jährige. „Wenn ein Sammler, der hunderttausend Platten zu Hause stehen hat, zu uns kommt und ein gutes Soulalbum kaufen will, dann bekommt er das.“ Röder erinnert auch daran, dass das Mehr an Vinyl-Verkäufen in Deutschland sich nicht ausschließlich in den Läden bemerkbar mache: „Vieles ist auch Onlinebusiness“, erklärt er.

Beim Onlinebusiness fällt aber ganz sicher das weg, was die meisten Läden im Reuterkiez gemein haben: ein sorgfältig ediertes Angebot und die Fachkompetenz an der Ladentheke, dank der man die gut klingenden Vinyl-Scheiben viel einfacher findet. Denn dies ist ein weiteres Argument für Vinyl, das dessen Fans immer wieder anbringen: Der Klang sei bei hochwertigem Vinyl voller als bei jedem digitalen Tonträger. In der Sanderstraße – wo das rote Vinylherz schlägt – könnte man dies mit dem Kauf eines solchen runden Scheibchens mal überprüfen.

Extra-Shopping-Tipp: knapp außerhalb des Reuterkiezes: Heiße Scheiben, Ohlauerstr. 44; Schallplatten + CDs, Karl-Marx-Str. 43

Extra-Shopping-Tipp II: Am Samstag ist Record Store Day – bundesweit bieten unabhängige Plattenläden Sonderauflagen und seltene B-Seiten an, die nur für diesen Tag hergestellt werden und nur an diesem Samstag zum Verkauf stehen – auch im Reuterkiez