„Lieb sein reicht nicht mehr“

SOZIALARBEIT Methoden aus der Wirtschaft haben der sozialen Arbeit auch Gutes beschert, sagt Professorin Stefanie Sauer. Um sich gegen ein Diktat des Geldes zu wehren, brauche es aber noch mehr Profis

■ 49, ist seit 2010 Professorin für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB) in Zehlendorf. Davor war sie 17 Jahre lang Sozialarbeiterin im Jugendamt Neukölln.

INTERVIEW MANUELA HEIM

taz: Frau Sauer, es schimpfen ja immer alle auf die Ökonomisierung der sozialen Arbeit. Aber sind die Bedingungen für Sozialarbeiter und Betreute wirklich nur schlechter geworden in den letzten 25 Jahren?

Stefanie Sauer: Die Effektivierung der sozialen Arbeit – das ist ja ein Begriff aus der Ökonomie – hat in den letzten 20 bis 25 Jahren durchaus auch zur Professionalisierung beigetragen. Die Organisationsformen der freien Träger, die Weiterentwicklung der Methoden, die Evaluation, Supervision, der Diskurs in der Wissenschaft – das ist alles erst mal auch positiv zu sehen.

Man hat den Eindruck, dass die Angebote in der sozialen Arbeit, sei es in der Betreuung von Jugendlichen oder Süchtigen, so vielfältig sind wie noch nie.

Das stimmt. Aber das hat eine Kehrseite. Nehmen wir das Beispiel Jugendhilfe, mein Fachgebiet: Da wurden viele Aufgaben von den Jugendämtern outgesourct …

Ein wirtschaftlicher Begriff!

Ja, also auf freie Träger übertragen. Das ist erst einmal nicht schlecht und führt tatsächlich zu mehr Vielfalt, aber auch zu mehr Konkurrenz zwischen den freien Trägern. Die unterbieten sich einfach gegenseitig, damit sie von den Behörden beauftragt werden. Den Kostendruck geben sie dann eins zu eins an ihr Personal weiter. So sind die Erwartungen an die Professionalität zwar so hoch wie nie, aber die Mitarbeiter haben zum Beispiel viel weniger Stunden pro Familie zur Betreuung.

Und stehen mehr unter Druck?

Ich hatte neulich mein erstes Treffen mit ehemaligen Studierenden. Die kamen zu mir und haben gesagt: „Frau Sauer, wieso hat uns niemand erzählt, dass soziale Arbeit ein Wirtschaftsunternehmen ist, da geht es ja um Konkurrenz, Wettbewerb und Druck.“ Tatsächlich ist neu, dass Berufsanfänger das in dieser Dimension so schnell wahrnehmen. Das ist ein Nachteil der Ökonomisierung. Was ich außerdem seit rund zehn Jahren mit Sorge beobachte: Häufig werden wissenschaftlich entwickelte Methoden selbst benutzt, um Kosten zu sparen.

Haben Sie ein Beispiel?

Ja, wieder aus der Jugendhilfe. Vor einigen Jahren wurde in Berlin das Sozialraumkonzept eingeführt, ein am Lebensraum der Klienten orientiertes Hilfekonzept. Statt vieler professioneller Hilfen sollten auch bestehende Ressourcen und Netzwerke im Umfeld genutzt werden. Das trägt in der Theorie ganz klar zur Effektivierung der sozialen Arbeit bei. Was die Entwickler auch deutlich sagten: In den Anfangsjahren wird das Konzept erst mal zusätzliches Geld kosten für die Umstrukturierung und die Schulung der Fachkräfte. Das wurde von den Behörden ausgeblendet und gleich mit dem Endergebnis kalkuliert. Da wurden sofort Hilfen gekürzt, ohne dass die neuen Strukturen etabliert waren.

Mit welcher Begründung? „Wirkt ja eh nicht!“ Begründet wird das mit einer Evaluation, also Wirksamkeitsmessung, die auch aus der Wirtschaft kommt. Da zeigt sich dann etwa nach einem Jahr ambulanter Hilfe: Ziel nicht erreicht, also wird die Hilfe gestrichen. Das ist sehr pointiert dargestellt, aber so habe ich es in den letzten Jahren beobachtet.

Ist es nicht gut zu messen, ob eine Hilfe auch wirklich hilft?

Wirksamkeitsmessung ist wichtig. Und dafür müssen Ziele formuliert werden, auch richtig. Aber Zielerarbeitung – gerade in der Arbeit mit Menschen – erfordert eine hohe Kompetenz. Die Wirksamkeit sozialer Arbeit lässt sich eben nicht so einfach messen wie Wirtschaftsleistungen.

Sie haben in den 1980ern studiert, als man Soziale Arbeit studierte, weil man systemrelevant etwas verändern wollte. Hat sich das heute geändert?

Ach, das ist dieses Generationending, da stimme ich ungern mit ein. Ich glaube, dass auch meine Generation damals ziemlich apolitisch wahrgenommen wurde, vor allem von den Achtundsechzigern. Wir waren halt anders politisch. Ich war zum Beispiel sehr frauenbewegt, das beobachte ich heute fast gar nicht mehr. Da gibt es inzwischen andere Themen, eine andere Art von Bewegtsein. Seit zwei Jahren engagieren sich mehr und mehr Berliner Studierende und Berufseinsteiger für die Anerkennung ihrer Profession – im Netzwerk „Prekäres Praktikum“ zum Beispiel. Das hat etwas mit Berufsidentität zu tun, mit Sich-selbst-aus-der-Nische-Holen. In dieser Form ist das neu.

Gibt es inzwischen auch welche, die Soziale Arbeit studieren, um Karriere als Sozialunternehmer zu machen?

Nee, also zumindest nicht bei mir. Es gibt natürlich die, die sagen „Ich gründe dann auch ein Kinderheim“ oder so. Da denke ich mir, okay, ich desillusioniere die jetzt mal nicht. Dafür reicht jedenfalls ein Bachelor in Sozialer Arbeit nicht aus. Da muss man heute noch mindestens einen Master in Sozialmanagement machen, um mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen klarzukommen.

Ziehen wir ein Resümee: Sind die Bedingungen für Sozialarbeiter nun besser oder schlechter als vor 25 Jahren?

Sowohl als auch. Es gibt Berufsfelder, da werden die Einsteiger optimal eingearbeitet: Da gibt es berufliche Beratung und Begleitung für schwierige Fälle, gute Räumlichkeiten. Das ist wirklich besser als vor 25 Jahren, weil die Arbeit systematischer ist. In einigen Organisationen und Institutionen haben sich allerdings in Folge des Wettbewerbs und des Kostendrucks die Arbeitsbedingungen enorm verschlechtert. Etwa in Bezug auf die betreuten Fälle pro Mitarbeiter, die Aufgaben und die Arbeitsverdichtung.

Und aus Sicht der Betreuten?

Heute ist es in gewisser Weise „unbequemer“, der aktivierende Ansatz nötigt den Klienten viel mehr Eigeninitiative ab. Ich meine aber auch, dass der Blick auf das, was die Adressaten der sozialen Arbeit brauchen, im Zuge der Professionalisierung viel positiver geworden ist. Insgesamt werden viel mehr Menschen zu einem viel früheren Zeitpunkt erreicht. Die Frage ist nur, ob wir angesichts des Kostendrucks die Möglichkeiten ausschöpfen, die wir theoretisch haben.

Mit allen Angeboten, die auf die Aktivierung des Menschen im Sinne der leistungsorientierten Gesellschaft hinarbeiten: Wirkt die soziale Arbeit am Ende nicht nur systemerhaltend – statt Missstände wie die Ungleichverteilung von Geld, Bildung und Macht anzuprangern?

Das ist ein berechtigter Vorwurf an soziale Arbeit und berührt die Frage, inwiefern sie sich zum Büttel des Staats macht. Wir haben zum Beispiel 25 Prozent Kinderarmut in diesem Land, und da braucht es noch viel stärker die soziale Arbeit als Anwältin, die nicht nur beschwichtigt, sondern die darauf aufmerksam machen, wo etwas verloren geht in der Gesellschaft. Es ist eine Herausforderung für Sozialarbeiter, sich weder zum Diener des Staats noch der Klienten zu machen. In der modernen sozialen Arbeit gibt es deshalb die Idee einer dritten Dimension: der Orientierung an den Menschenrechten.

Angesichts des Kostendrucks klingt das nach schöner Utopie.

Dem Diktat des Geldes muss man heute mit Wissen, Bildung und Können begegnen. Ein Sozialarbeiter muss in der Lage sein, fachlich gut zu begründen, warum welche Hilfe wie sinnvoll ist. Das hilft in der Auseinandersetzung mit den Behörden, aber auch in der Arbeit mit Klienten.

Also noch mehr Professionalisierung?

Ja – und mehr Selbstbewusstsein. Da haben wir schon viel geschafft. Es reicht eben nicht mehr aus, lieb und empathisch zu sein. Für die soziale Arbeit muss man beurteilen, beschreiben, erklären und die politischen, gesellschaftlichen und institutionellen Einflüsse einschätzen können. Dafür braucht es gute Ausbildung und Weiterbildung. Soziale Arbeit ist ein sehr anspruchsvoller Beruf, der mit dem alten Bild von Fürsorge nichts mehr zu tun hat.