Respektlosigkeit vor dem Recht

DROGEN Die Null-Toleranz-Zone im Görlitzer Park verstößt gegen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, so Wolfgang Neskovic. Ein Gastbeitrag

■ 66, ist Jurist. Als Vorsitzender Richter am Landgericht Lübeck hat er 1994 mit einem Vorlagebeschluss beim Bundesverfassungsgericht den wegweisenden Cannabis-Beschluss „Recht auf Rausch“ erstritten.

■ Der besagt, dass der Besitz geringer Mengen Cannabis zum Eigenverbrauch im Regelfall straffrei bleibt.

■ 2005 bis 2013 saß Neskovic (parteilos) als Mitglied der Linkspartei im Bundestag. Zuvor war er Richter am Bundesgerichtshof. (plu)

VON WOLFGANG NESKOVIC

Ab 31. März haben die drei Berliner CDU-Senatoren Frank Henkel (Inneres), Thomas Heilmann (Justiz) und Mario Czaja (Soziales) den Görlitzer Park in Kreuzberg zur Null-Toleranz-Zone für Cannabis erklärt. Wer dort mit kleinsten Mengen Haschisch oder Marihuana angetroffen wird, soll nun – entgegen der bisherigen staatsanwaltschaftlichen Praxis – mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen müssen.

Bislang galt bei Kleinstmengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch eine abgestufte Anweisung für die Staatsanwaltschaft: Bis zu einer Bruttomenge von 15 Gramm konnte die Staatsanwaltschaft ohne Beteiligung durch das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen von der Strafverfolgung absehen. Bei einer Menge von 10 Gramm war das Ermittlungsverfahren grundsätzlich einzustellen.

Viel Kritik an Neuregelung

Die Neuregelung hat in der Öffentlichkeit – sogar in Kreisen der Sicherheitsbehörden – völlig zu Recht viel Kritik einstecken müssen. Etwa von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) : „Der Innensenator und der Justizsenator handeln aufgrund öffentlichen Drucks aktionistisch“, monierte die Organisation. Die drogenfreie Zone werde das Problem nicht lösen. Und wegen der zusätzlichen Einsätze im Görlitzer Park würde anderweitig Personal fehlen, etwa bei der Kriminalitätsbekämpfung. Auch der Vorsitzende der Vereinigung Berliner Staatsanwälte, Ralph Knispel, hat Bedenken angemeldet und von einer „rein politischen Entscheidung“ gesprochen. Rechtliche Bedenken hat er jedoch nicht vorgebracht. Dabei liegen diese auf der Hand. Denn die nunmehr angeordnete veränderte Praxis staatsanwaltschaftlicher Verfolgung bei Cannabisdelikten im Görlitzer Park ist mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im „Cannabis-Beschluss“ aus dem Jahre 1994 nicht vereinbar.

In ihrem politischen Law-and-Order-Eifer haben die drei CDU-Senatoren offenkundig darauf verzichtet, von der alten Kulturtechnik des Lesens angemessen Gebrauch zu machen. So muss der Eindruck entstehen, dass sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entweder nicht oder nur teilweise gelesen – oder zwar gelesen, aber nicht verstanden haben. Allein diese Versäumnisse würden schon Rücktrittsforderungen gegen Henkel, Heilmann und Czaja rechtfertigen. Sollten sie hingegen die Entscheidungsgründe des Gerichts gelesen und sogar verstanden haben, dann wäre ein Rücktritt beziehungsweise eine Entlassung aus ihren Senatorenämtern unumgänglich. Denn wer den Anschein erweckt, er ignoriere eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, um einen vermeintlichen tagespolitischen Vorteil zu erreichen, ist für ein Senatorenamt augenscheinlich ungeeignet.

Um den offensichtlichen Verstoß gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen, ist es erforderlich, sich an die Gründe dieser Entscheidung zu erinnern. Nach unserer Verfassung ist es niemandem verwehrt, sich selbst gesundheitlich zu schädigen oder auch erhebliche gesundheitliche Risiken einzugehen. So steht es jedem frei, gesundheitsschädliche Stoffe zu sich zu nehmen oder gefährliche Sportarten auszuüben.

Die Freiheit der Selbstschädigung geht sogar so weit, dass jeder sich auch der denkbar schärfsten Eigenschädigung aussetzen darf: der Selbsttötung. Nach unserem Strafrecht ist die Selbsttötung nicht mit Strafe bedroht. Das erscheint selbstverständlich, wenn die auf die Selbsttötung ausgerichtete Handlung den angestrebten Erfolg herbeiführt. In einem solchem Fall besteht kein Bedürfnis für irdische Gerechtigkeit. Und selbst wenn der Lebensmüde sein Handeln überlebt, muss er keine strafrechtliche Verfolgung fürchten: Der Versuch der Selbsttötung ist nicht strafbar. Daraus ergibt sich mit logischer Zwangsläufigkeit, dass, wenn die schwerste denkbare Selbstschädigung für den Handelnden straflos bleibt, erst recht mindere Formen der Selbstschädigung straflos bleiben müssen.

Bei dieser Ausgangslage muss der bloße Konsum – also der unmittelbare Verbrauch von Cannabis – selbst dann straflos sein, wenn die von den Prohibitionsbefürwortern behaupteten Gefahren des Cannabiskonsums zuträfen. Diese Schlussfolgerung entspricht auch der gegenwärtigen Rechtslage, wonach der Konsum als solcher nicht strafbar ist. Nur dann, wenn der Konsument auch gleichzeitig Besitzer der Cannabisprodukte ist, ist eine strafrechtliche Verfolgung möglich.

Joint zum Mitrauchen

Mit dem Besitz verbindet der Jurist die Vorstellung, dass der Besitzer die tatsächliche Sachherrschaft über die Besitzgegenstände ausüben kann. Verfügt er über diese Sachherrschaft, so kann er diese Gegenstände auch an Dritte weitergeben. Diese Möglichkeit der Weitergabe und die damit verbundene Fremdgefährdung ist der eigentliche Strafgrund für den Besitz von Cannabisprodukten. Praktisch bedeutet das: Wer in einer Runde seinen Joint anderen zum Mitrauchen zur Verfügung stellt, ist Besitzer und macht sich demnach strafbar, während die lediglich Mitrauchenden – als bloße Konsumenten – nicht strafrechtlich verfolgt werden können.

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht auch den Besitz von Cannabisprodukten in geringen Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch grundsätzlich für nicht strafwürdig erachtet. In diesen Fällen sei die „konkrete Gefahr einer Weitergabe der Droge an Dritte nicht sehr erheblich“.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich dabei an der vermeintlichen Alltagserfahrung orientiert, wonach derjenige, der wenig hat, auch dazu neigt, wenig oder gar nichts abzugeben. In solchen Fällen sei der individuelle Schuld- und Unrechtsgehalt generell so gering, dass eine Bestrafung grundsätzlich gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot verstoße. Deswegen lautet die Vorgabe des Gerichts: In solchen Fällen „haben“ die Strafverfolgungsorgane – von Ausnahmefällen abgesehen – von einer Bestrafung „abzusehen“. Dieser Formulierung ist der eindeutige Imperativ zu entnehmen, dass in solchen Fällen eine strafrechtliche Verfolgung und Bestrafung aus verfassungsrechtlichen Gründen verboten ist.

An diesem eindeutigen Verdikt können auch die drei Berliner CDU-Senatoren nichts ändern. Staatsanwälte und Gerichte sind an das Recht gebunden – und nicht an verfassungswidrige Anweisungen von Senatoren. Das bedeutet, dass nicht nur eine Verurteilung, sondern auch schon eine strafrechtliche Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft verfassungswidrig wäre.

Allerdings könnten die CDU-Politiker versuchen, sich darauf zu berufen, dass sie in ihrer gemeinsamen Anweisung lediglich jene Fälle, die nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausnahmsweise auch bei kleinen Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch eine Bestrafung ermöglichen, für den Görlitzer Park verfassungsgemäß konkretisiert hätten. In der Tat haben die Verfassungsrichter darauf hingewiesen, dass selbst bei kleinen Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch an besonderen Orten – in Schulen, Jugendheimen, Kasernen oder ähnlichen Einrichtungen – und bei besonderen Personengruppen – etwa Erzieher, Lehrer und bei mit dem Vollzug des Betäubungsmittelgesetzes beauftragten Amtsträgern – eine „größere Schuld und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung vorliegen“ könne.

Das setzt jedoch voraus, dass die Tat an den genannten Orten (zu denen keine Parks gehören) von diesen Tätergruppen eine zusätzliche, über den bloßen Besitz hinausgehende Fremdgefährdung hervorruft. Nach dem unmissverständlichen Wortlaut der Entscheidung ist das jedoch nur der Fall, wenn die Tat „Anlass zur Nachahmung gibt.“

An anderer Stelle der Entscheidung heißt es hierzu ergänzend, dass eine Bestrafung auch dann in Betracht käme, „wenn die Art und Weise des Konsums dazu geeignet ist, Jugendliche zum Gebrauch der Droge zu verleiten“. Demnach darf nur bestraft werden, wenn der grundsätzlich geringe Schuld- und Unrechtsgehalt, der allein mit dem Besitz kleiner Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch verbunden ist, dadurch gesteigert wird, dass der Täter schuldhaft (das heißt vorwerfbar) weiteres Unrecht begeht. Dieses zusätzliche Unrecht ist nach den Entscheidungsgründen jedoch nur dann gegeben, wenn andere durch den bloßen Besitz zur Nachahmung „ermuntert“ oder „verleitet“ werden.

Populistisches Gebaren

Das wiederum setzt jedoch zwingend voraus, dass der Besitzer anderen den Besitz von Cannabisprodukten zumindest offenbart. Wer demnach mit geringen Mengen Cannabis, die zum gelegentlichen Eigenverbrauch bestimmt sind, durch den Görlitzer Park läuft und dies gegenüber anderen Personen verbirgt, darf trotz der Verfügung der drei CDU-Senatoren nicht bestraft werden. Denn er setzt schuldhaft kein weiteres Unrecht, das eine Bestrafung rechtfertigt.

Das von Justizsenator Heilmann ausgegebene Ziel, „den Kreuzbergern ihren Park zurückzugeben“ – was immer mit dieser Politikphrase gemeint sein mag – legitimiert keine Änderung der strafrechtlichen Verfolgungspraxis beim Besitz kleiner Mengen von Cannabisprodukten zum gelegentlichen Eigenverbrauch. Dadurch, dass die drei Senatoren dem Polizeipräsidenten im Einvernehmen mit dem Generalstaatsanwalt aufgrund nicht nachvollziehbarer Kriterien und ohne Beteiligung von Senat und Parlament die Befugnis einräumen, strafrechtliche Sonderverbotszonen einzurichten, können sie weder die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch die bundeseinheitlich geltenden Regelungen des Betäubungsmittelstrafrechts außer Kraft setzen. Das populistische Gebaren der drei CDU-Senatoren kann daher für die Besitzer kleiner Mengen von Cannabisprodukten zum gelegentlichen Eigenverbrauch kein zurechenbares zusätzliches Unrecht begründen, das eine Strafbarkeit rechtfertigt. Es demonstriert lediglich die Respektlosigkeit der CDU-Senatoren vor dem Recht.