OFF-KINO
: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

Vergleichsweise selten zu sehen sind die Filme, die Jean-Luc Godard gemeinsam mit Jean-Pierre Gorin (oder gelegentlich mit Jean-Henri Roger) als Groupe Dziga Vertov in den späten 1960er-Jahren drehte: zumeist jenseits kommerzieller Strukturen entstandene, politisch von einem merkwürdigen Rundumschlags-Marxismus geprägte Experimentalwerke, die gleichwohl einen wichtigen Schritt in der Entwicklung Godards als Filmemacher repräsentieren. Im Mittelpunkt von „Le vent d’est“ (1969) steht Lenins Frage „Was tun?“, auf die Godard und Gorin jedoch auch nicht wirklich eine Antwort haben: Die verschiedenen Spielarten des politischen Marxismus werden ebenso radikal kritisiert wie der „politische“ Film etwa von Eisenstein und Wertow. Doch auch das eigene Werk, das hier vor allem von „verfremdetem“ Laienspiel und endlosen Tiraden aus dem Off geprägt ist, scheinen die Filmemacher nicht als Nonplusultra anzusehen – üben sie sich doch massiv in der damals in linken Kreisen so beliebten Selbstkritik. Mit der Zeit wird „Le vent d’est“ immer godardesker, schließlich bricht Godards Sarkasmus immer stärker durch: Den berühmten brasilianischen „Revolutions“-Regisseur Glauber Rocha an eine Weggabelung zu stellen und ihn mit den Worten „Entschuldigen Sie, dass ich sie bei der Weltrevolution störe“ nach der Richtung des politischen Kinos zu befragen, ist schon ziemlich bitter.

Dazu passt Pier Paolo Pasolinis Gesellschaftsparabel „La Ricotta“. In dem Kurzfilm aus dem Jahr 1962 dreht ein marxistischer Filmregisseur (Orson Welles) einen Christusfilm, bei dessen Dreharbeiten der proletarische Stracci buchstäblich ums Überleben kämpft. Nachdem er ein von der Produktionsgesellschaft ausgegebenes Lunchpaket an seine Familie weitergegeben hat und ein erschlichenes zweites Paket von einem Hund gefressen wurde, schlingt er den schließlich organisierten titelgebenden Weichkäse so hastig herunter, dass er in der Kreuzigungsszene stirbt. Das zynische Schlusswort hat Orson Welles: Nur im Tod konnte Stracci überhaupt beweisen, dass er lebendig war.

Das Auffälligste an Sophia Coppolas „Marie Antoinette“ (2006) mögen der moderne Rocksoundtrack sowie die sagenhaften Ausstattungsorgien mit den rosa Cremetorten sein, die nicht unbedingt auf gesteigerte historische Genauigkeit schließen lassen. Doch zweifellos gelang es der Regisseurin recht überzeugend, das System Versailles mit seinen Absurditäten in Szene zu setzen. Denn Coppolas Figuren haben keinen wirklichen Charakter, sie sind wie Puppen, die sich allein durch ihre Funktion am Hof definieren: Aufstehen, Anziehen, Essen, Sexualleben – detailliert festgelegte Rituale, bei denen von der Königin bis zum kleinsten Chargen jeder seine festgelegte Rolle spielt. Ein Privatleben ist nicht existent, der Blick auf die Wirklichkeit jenseits des Hofes findet nicht statt. Coppola schildert, wie die Königin (Kirsten Dunst) durch Irrungen und Wirrungen letztlich zu Ansätzen eines eigenen Lebens und zur Entwicklung eines eigenen Charakters findet, ehe die Revolution alldem ein Ende bereitet. LARS PENNING

„Le vent d’est“ (OmU), 6. 6. im Arsenal

„La Ricotta“ (OF), 11. 6. im Arsenal

„Marie Antoinette“, 10. 6. in der Urania