Filme über Männlichkeit

RETROSPEKTIVE Katholische Motivik, amerikanische Mafiosi und hysterische Frauen: Das Arsenal ehrt Martin Scorsese zum 70. mit einer Werkschau

Scorsese tanzt virtuos auf der Grenze zwischen Independent und Hollywood

VON SILVIA HALLENSLEBEN

Die berühmte Steadycam-Fahrt in „Goodfellas“ von der Hintertür des Copacabana-Clubs durch Lager und Küche bis in den vollen Saal, wo dann ein von Zauberhand hereingeschwebtes weißgedecktes Tischchen Henrys schwer beeindruckte Geliebte direkt vor die Bühne platziert. Helden wie Travis Bickle und Jake La Motta. Mafiosi in New York, Boston und Las Vegas. Die Filme Martin Scorseses sind längst untrennbar in unsere Ikonografie eingeschmolzen, wenn man sich im Internet oder im Buchregal umschaut, stapeln sich die Superlative, gern ist vom größten Filmemacher der Welt oder zumindest Amerikas zu lesen. Das kann nur Unfug sein und wird von dem Bejubelten selbst praktisch durch die Leidenschaft konterkariert, mit der er sich als Sammler, Streiter und Dokumentarist der Filmgeschichte und dem Schaffen anderer widmet und in seinen Filmen vielfältige Verweise auf Vorbilder der Kinogeschichte einbaut.

Glatt war der Weg des Jungen aus Little Italy auf den cineastischen Olymp keineswegs, auch wenn man von den Kontroversen um „The Last Temptation of Christ“ (1988) absieht. Da war besonders der schwere persönliche und berufliche Einbruch nach dem Höhenflug (samt Goldener Palme 1976) von „Taxi Driver“, von dem er sich erst wieder mit „Goodfellas“ (1990) erholt hatte, bevor dann ein Jahrzehnt später mit nach „Gangs of New York“ kommerziell noch einmal die Post abging. Dabei tanzt Scorsese seit dem ersten Erfolg mit „Mean Streets“ (1973) virtuos auf der Grenze zwischen Vision und Genre, Independent und Hollywood. In seiner Filmsprache integriert er uramerikanische und katholische Motivik mit Stilmitteln der europäischen Avantgarde. Die perfekt rhythmisierten Soundtracks bringen die Ronettes mit Bach und italienischer Oper zusammen. Oder die Apotheose von „Mean Streets“, wo sich das Inferno einer blutigen Abrechnung mit der Inszenierung des Heiligenfestes mischt.

Scorsese ist auch Teamplayer, der andere Talente auf den Weg brachte: Die Schauspieler Keitel und De Niro, die Cutterin Thelma Schoonmaker, die als Virtuosin der Tempowechsel ab „Raging Bull“ alle Filme schnitt. Und natürlich Kameramann Michael Ballhaus, der den speziellen Scorsese-Sog erzeugt. Kreiert wurde dieser Kamerasound erstmals bei der Komödie „After Hours“, die die erotischen Fantasien eines biederen Büroangestellten in einen bizarren satirischen Albtraum umlenkt – zu einer Zeit, als Computer noch neu und niedlich waren und Lofts eine romantische Nische im Wohnungsmarkt. Der Film entstand 1985 als Intermezzo und zeigt Scorseses Themen in ungewohnter komödiantischer Travestie: Die Suche nach einem sicheren Ort und nach Anerkennung in einer gewalttätigen, sexualisierten und prekären Welt, die beherrscht wird von Vätern und Ersatzvätern, Rivalen, Kumpanen und Loyalitäten.

Nichts Neues im Westen, nur dass Scorsese diese Gewaltverhältnisse nicht naturalisiert, sondern als gesellschaftliche Zwänge zeigt und seine Filme so – ähnlich wie bei seinem Freund John Cassavetes – von Männerfilmen zu Filmen über Männlichkeit werden. „It just doesn’t make any sense“, sagt „Held“ J. R. im Spielfilmdebüt „Who’s That Knocking at My Door“ immer wieder, als ihm seine Freundin von einer früheren Vergewaltigung erzählt. Doch dann versucht er, sich einen Sinn daraus zu machen, indem er sie erst demütigt und ihr dann verzeiht: einer von unzähligen Misshandlern in Scorceses Filmwelt. Mysogynie wurde ihm ob seiner reduzierten Frauengestalten manchmal vorgeworfen, dabei lassen die Filme keinen Zweifel daran, dass und wie die Frauen hysterisch gemacht werden („That’s all in your mind“, sagt Michael zu Karen in „Goodfellas“, als die sich über seine Missachtung beschwert), ihr Herumgezeter – und irgendwann das Weggehen – sind dauerndes irritierendes Störgeräusch. Wenn in „Alice Doesn’t Live Here Anymore“ ein weibliches Schicksal ins Zentrum rückt, funktioniert dieses realistisch harte Setting interessanterweise nicht mehr, und der Schrecken häuslicher Gewalt nimmt ein erschreckend versöhnliches Ende. In der Retrospektive, die das Arsenal dem sich immer wieder neu erfindenden Tausendsassa jetzt zum 70. widmet, werden siebzehn von Scorseses langen Spiel- und Dokumentarfilmen und fünf kurze Arbeiten gezeigt. Mein Liebling dabei: „Italianamerican“ (1974), ein Dokumentarfilm über Martins Eltern, gedreht in deren New Yorker Wohnung, während Mama S. (die auch in einigen seiner Filme mitspielt) beim Kochen kurz auch mal dem Sohn ins Regiehandwerk pfuscht, während Papa S. vom Sofa das unnatürliche Agieren seiner Frau kritisiert.

■ Retrospektive Martin Scorsese: bis 13. 1. 2013 im Arsenal. Programm: www.arsenal-berlin.de