Komplett über die Stränge schlagen

GANGSTERFILME Die Reihe „Cinema from Hong Kong“ feiert das schon lange totgesagte, aber nach wie vor beglückende Kino Hongkongs mit aktuellen Produktionen von Johnnie To und Kollegen

Dem Hongkong-Kino gelingt es immer wieder, alle Erwartungen zu unterlaufen

VON LUKAS FOERSTER

Johnston (Andy Lau) hatte Ho (Sammi Cheng) gebeten, beim Nachvollzug eines Beziehungsstreits doch bitte nur so zu tun, als würde sie ihn schlagen. Zweimal bremst sie ihre Hand kurz vor seinem Gesicht ab, beim dritten Mal hat sie genug: Wenn sie sich schon in eine Rolle einfühlen müsse, dann richtig. In der nächsten Szene sieht man denn auch Druckstellen ihrer Hand auf seiner Wange. Und auf ihrer Wange Druckstellen seiner Hand. „So tun, als ob“ gilt nicht in Johnnie Tos „Blind Detective“.

Johnston ist der blinde Detektiv des Titels: ein Polizist, spezialisiert darauf, alte Fälle, die von seinen Kollegen längst ad acta gelegt wurden, neu aufzurollen. Unter Einsatz seiner übriggebliebenen vier Sinnesorgane und einer überbordenden Vorstellungskraft. Das distanzierte Abwägen ist seine Sache nicht, er gibt sich erst zufrieden, wenn er sich mit Haut und Haaren in einen Fall versenkt hat.

Weite Teile des Films bestehen aus aufwändigen Reenactments unaufgeklärter Verbrechen, die er gemeinsam mit seiner Kollegin Ho durchführt, die sich als kongeniale Partnerin erweist. Vorläufig nur im Berufsleben; die rabiaten Rollenspiele geben freilich schon bald eine Ahnung, dass es dabei nicht bleiben wird.

Bekannt ist Johnnie To vor allem für seine eleganten, ökonomischen Thriller. Immer wieder aber dreht er auch Filme, die komplett über die Stränge schlagen. „Blind Detective“, über weite Strecken mehr Farce als Thriller, ist so ein Fall. Ein völlig enthemmtes Ding, in dem es vor Großmüttern mit knallroten Perücken und Körperflüssigkeitswitzen nur so wimmelt, das keine Rücksicht nimmt auf die Grenzen des guten Geschmacks. Und auch nicht darauf, wie man, nach Willen der Regeldramaturgie, eine Geschichte zu erzählen habe. Viel wichtiger als innere Kohärenz ist To, alle Exzesse effektvoll in Szene zu setzen; seine Regie verwandelt gleich zu Beginn eine Säureattacke in eine Ballettnummer, danach wechselt der Film zwischen diversen Zeit- und Wirklichkeitsebenen.

Dass dieser hochgradig experimentell angelegte Film nicht auseinanderbricht, liegt freilich auch daran, dass To kongeniale Mitstreiter hat: Vor allem Sammi Cheng erweist sich als großartige Slapstick-Komikerin, wenn sie um den zugleich lakonischen und tollpatschigen Meisterdetektiv herumschwirrt, stets bereit, dessen Eskapaden mit dem eigenen Körper abzufedern.

„Blind Detective“ ist Teil der Filmreihe „Cinema from Hong Kong“: Ein kleines, aber konzentriertes Programm hat das Kino Arsenal zusammengestellt, das dazu einlädt, eine schon lange totgesagte, aber nach wie vor überaus beglückende Kinematografie zu feiern. Fünf aktuelle Produktionen sind zu sehen, dazu noch einmal die legendäre „Infernal Affairs“-Trilogie, die in den Jahren 2002 und 2003 das zuvor – wegen der 1997 erfolgten Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie an China – in eine tiefe Krise geratene Hongkong-Kino fast im Alleingang wiederbelebt hatte. Die Gelegenheit, dieses weit ausgreifende Polizisten-und-Gangster-Epos noch einmal als 35-Millimeter-Filmkopie zu sehen, sollte man nicht versäumen.

Hochleben lassen darf man das Hongkong-Kino auch dafür, dass es ihm immer wieder gelingt, alle Erwartungen zu unterlaufen. Dante Lam zum Beispiel gilt als Spezialist für düstere Thriller; „That Demon Within“, erst dieses Jahr auf der Berlinale zu sehen, war ein regelrechter Höllentrip, der der pechschwarzen Finsternis im Innersten der menschlichen Psyche gnadenlos ins Auge blickt. Am Ende bleibt nichts als verbrannte Erde.

Vor seinem anderen neuen Film müsste man eigentlich erst recht Angst haben: „Unbeatable“ spielt im „Ultimate Fighting“-Milieu, handelt also von Männern, die sich von Berufs wegen gegenseitig die Fresse auf besonders brutale Art und Weise einschlagen. Tatsächlich entpuppt sich der Film als ein zutiefst humanistisches, fast schon unverschämt sentimentales Charakterdrama, das für jede Wunde das passende Pflaster bereithält.

■ „Cinema from Hong Kong“: Kino Arsenal, 21.–31. 5., www.arsenal-berlin.de