Fleisch der Seele, Opium für die Ohren

FILM Seit dem Ende der Stummfilmära gehört der bildsynchrone Ton wie selbstverständlich zum Film. Das Kino Arsenal widmet sich in der „Magical History Tour“ dem Element der Stimme

Der Tonfilm klopft nicht leise an die Tür, er bricht herein

VON CAROLIN WEIDNER

„Die Stimme ist das Fleisch der Seele“, sagt der slowenische Philosoph Mladen Dolar. Von „einer Art Opium für den Zuschauer“ ist hingegen beim Komponisten und Theoretiker Michel Chion die Rede, wenn er auf den Ton zu sprechen kommt, und wie dieser oft bewusst oder unbewusst eingesetzt werde, um auf den Zuschauer einzuwirken, „ohne sein Wissen“ zumal, und um „ihn nervlich und körperlich aufzuwühlen und seine kritische Wachsamkeit zu unterlaufen.“ Es existieren viele Seiten zum Thema Ton im Film. Und wie verschieden die Einsatzmöglichkeiten von Tonalität im Bewegtbild sind, so unterschiedlich sind auch die Schlüsse, zu denen der eine oder andere bis dato gelangt ist.

Fakt ist jedoch: Für unser Verständnis gehört die Tonspur zum Bildlauf. Und unter den zahlreichen Elementen, die auf dieser Spur zu finden sind, ist es wohl vor allem das der Stimme, auf welches man am seltensten verzichten muss. Oder auch darf. Denn eine Stimme ist nicht immer Genuss. Ein Dialog kann quälen. Oder eine Diktion verstören. Das Arsenal widmet sich in der Augustausgabe seiner „Magical History Tour“ den Dimensionen des Seelenfleischs unter dem Titel „Stimme, Sprache, Sprechen im Film“.

Das Ergebnis dieser Recherche ist überaus divers. Es umfasst Marlene Dietrichs Gesang in Josef von Sternbergs „Der blaue Engel“ (D 1929/30) oder „Singin’ in the Rain“ (USA 1952) von Stanley Donen und Gene Kelly. In erster Linie natürlich auch mit Gene Kelly. „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin …“, sprechsingt die Diva Dietrich, während Kelly pfeifend und entflammt durch den Regen spaziert. Der Schirm bleibt dabei schmal, Mann trägt Hut. Und auch abgesehen davon ist die Szene reines Hollywood, dessen Gegenstand „Singin’ in the Rain“ ja tatsächlich auch ist: der Stummfilmstar Don Lockwood in der Krise. Der Tonfilm klopft nicht leise an die Tür, er bricht herein. In Anbetracht dieses Hintergrunds ist „Singin’ in the Rain“ oder „Du sollst mein Glücksstern sein“, wie es hierzulande so schön erdacht wurde, doch sehr zynisch. Und dann ist der Film auch noch ein Musical!

Mehr gesprochen als gesungen wird dafür im französischen Film (wenn der Réalisateur nicht gerade Jacques Demy heißt). In Godards „Le Mépris“, (Die Verachtung, F/I 1963) gleich in mehreren Sprachen. Hier „gerinnt das Sprechen zum Vehikel hohler Phrasen“, weiß das Arsenal-Programm. Hin und wieder kommt es aber auch vor, dass man gar nicht erst versteht, worüber sich überhaupt unterhalten wird: So begleitet Jean-Pierre Gorins sehr aufschlussreicher Dokumentarfilm „Farewell My Lovelies / Poto and Cabengo“ (USA/BRD 1980) das Zwillingspaar Gracie und Ginny Kennedy, das in einer Idioglossie miteinander kommuniziert – einer rätselhaften Eigensprache, für alle außerhalb der Minimalgemeinschaft unmöglich nachzuvollziehen. Ein Phänomen, das als Sprachstörung gilt, den beiden Mädchen samt Familie in den späten 70er Jahren aber so einiges an Medienrummel beschert. Auch Gorin interessiert sich. Schafft es jedoch, durch den bereits geöffneten Spalt zu schlüpfen und die Familie Kennedy zu umzirkeln. Er resorbiert einen kuriosen Sprach-Mischmasch aus Englisch und Deutsch und filmt einen American Way of Life in den Vororten Kaliforniens.

Etwas mehr Richtung Osten bewegt sich Andrew Bujalskis (zuletzt „Computer Chess“) Film „Beeswax“ (USA 2009), nämlich nach Austin, Texas. Auch hier steht ein Zwillingspaar im Zentrum, diesmal heißen sie Jeannie und Lauren, keine kleinen Mädchen mehr, sondern junge Frauen. Ihr Verhältnis ist ebenfalls verschworen, doch durchaus semipermeabel. Bujalski gilt als Vertreter der sogenannten Mumblecore-Bewegung, einer neuen Generation US-amerikanischer Indie-Filmemacher, die sich der Repräsentation gewöhnlicher Protagonisten und Alltagssujets verschrieben haben. Gesprochen wird viel, oder besser: gemumbelt, also gemurmelt. Auch dies eine Form des Sprechens. Und „Beeswax“ beweist, das der Mund nicht immer aufgerissen werden muss, um etwas Lohnendes hervorzubringen.

■ Filmreihe 1.–31. August, Infos: www.arsenal-berlin.de