Am Anfang steht das Nichtwissen

FILM-PORTRÄT „anfangen“ zeigt die feministische Theorie-Ikone Christina Thürmer-Rohr als Sucherin nach neuen Perspektiven

Thürmer-Rohr hat nicht nur etwas zu erzählen, sondern auch zu sagen

VON CAROLIN WEIDNER

Es ist ein schöner Gedanke, der hinter Gerd Conradts Filmtitel „anfangen“ steckt, einem knapp einstündigen Dokumentarfilm über Prof. Dr. Christina Thürmer-Rohr: Sie versteht sich als eine, die wiederholt und gern zur Anfängerin wird. „Es ist ja immer ein Abenteuer, wenn man sich ein neues Thema vornimmt“, sagt Prof. Dr. Christina Thürmer-Rohr zu Beginn des Films. Zuvor sah man sie an einer Heimorgel spielen. Thürmer-Rohr ist bekannt als Denkerin, war aber immer auch Musikerin. Und vor allem eine Frau, die gern neue Themen in Angriff nimmt.

Thürmer-Rohr ist Frauenforscherin, von 1972 bis 2005 besetzte sie den Lehrstuhl Feministische Forschung an der TU Berlin. Sie gehört auch zum Kreis der taz-GründerInnen und setzte vielfach Akzente: Ute Scheub schreibt in einem Artikel von 2001, der anlässlich Thürmer-Rohrs 65. Geburtstag erschien: „Ihre 1987 veröffentlichte autobiografisch gefärbte Essaysammlung ‚Vagabundinnen‘ gilt vielen als ‚Bibel‘.“ Thürmer-Rohr war außerdem Mitglied der Rockformation „Außerhalb“. Es steht also außer Frage, dass diese Frau nicht nur etwas zu erzählen, sondern auch zu sagen hat.

In „anfangen“ geschieht das vornehmlich vor einer Bücherwand in Thürmer-Rohrs hauseigener Bibliothek. Ledersessel, Zigarette. „Ein Nichtwissen ist der Anfang, und nicht schon ein fertiger Gedanke oder ein Text, den man eigentlich nur noch aus dem Kopf abschreiben muss.“ Sie findet, man muss sich die „Gastfreundschaft im eigenen Kopf bewahren“, und fühlt sich Hannah Arendts „dialogischem Prinzip“ verwandt: „Man kann nicht immer weiter auf der gleichen Schiene denken.“

Und unter einer Anfängerin versteht sie, sich einigen Grundfragen immer wieder von anderen, neuen Seiten aus zu nähern. Durch Tätigkeiten, die man eben nicht von vornherein beherrscht. Ein Weg führt für sie dabei über die Musik, die Polyphonie, das Orgelspiel.

„Diese ganze Zeit wäre ohne die Musik für mich gar nicht überstehbar gewesen.“ Im Film musiziert Thürmer-Rohr allein oder mit Partnerin Laura Gallati, einer Schweizer Pianistin, mit der sie seit 1993 zusammenlebt. „Die eine Hälfte meines Lebens war ich mit Männern zusammen, die andere Hälfte mit Frauen. Finde ich auch ziemlich folgerichtig.“ Einen Mann gibt es aber trotzdem, Thürmer-Rohrs Sohn Til. Auch er ist Bestandteil von „anfangen“. In Schwarz-weiß-Amateuraufnahmen aus den 70er Jahren (die ebenfalls von Gerd Conradt stammen) berichtet das Kind Til aus seinem Leben. Til weiß zu berichten, dass seine Mutter häufig an der Schreibmaschine sitzt und Conradt fragt, ob die Mutti denn schnell schreiben könnte. Til antwortet „Nee“, und Christina Thürmer-Rohr bestätigt in der Retrospektive: „Das hat er schon richtig gesehen.“

„anfangen“ gelingt es gut, sich auf diesen verschiedenen Ebenen zu bewegen, ohne dass die Sprünge ungelenk wären oder das Gefühl sich breitmachte, man sei Zeuge einer lang anhaltenden Meditation.

Auch der Filmemacher Gerd Conradt bewegt sich in seiner Arbeit mit „anfangen“ auf mehreren Bahnen: Videoprogramme und Installationen, Fernsehen und Lehrtätigkeit. Sein Film „Video Vertov“ von 2012, dessen narrative Aufgabenstellung es war, seinem Enkel anhand von Archivaufnahmen von politischen, amourösen und schließlich auch spirituellen Marksteinen zu berichten, ist ein unfassbares Dokument. Und man kann Gerd Conradt doch sehr dankbar sein, dass er sich nun, 73-jährig, an diese persönliche Aufarbeitung macht. „anfangen“ ist Teil dieses Zyklus.

■ Präsentation „anfangen“ mit Gerd Conradt, Christina Thürmer-Rohr und Gästen: Gunda-Werner-Institut, Heinrich Böll Stiftung, Schumannstr. 8, 14. 10., 18 Uhr, einen Livestream der Diskussion gibt es ab 19 Uhr auf der Website gunda-werner-institut.de