Erzählungen aus Afrika

KINO Beim diesjährigen Festival Afrikamera im Kino Arsenal überraschen gerade die Produktionen der unteren Budgetklasse

„Dakar Trottoirs“ ist ein dynamischer, erstaunlich komplexer Gangsterfilm

VON LUKAS FOERSTER

„Le Challat de Tunis“, der zweite Langfilm der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania, geht von einem bis heute ungeklärten Kriminalfall aus: Im Jahr 2003 attackierten einer oder mehrere Unbekannte Frauen auf offener Straße mit Rasierklingen und verletzten sie am Hintern. Seither hat sich der „Challat“, der Schlitzer von Tunis, in eine urbane Legende verwandelt. Das anfänglich klassisch dokumentarische Setting des Films wird schnell fiktionalisiert: Weil Ben Hania den echten Challat nicht aufspüren kann, veranstaltet sie ein Casting – das wiederum von einem jungen Mann gesprengt wird, der sich selbst als Challat ausgibt. Unmarkiert wechselt der Film im Folgenden zwischen Beobachtung und Inszenierung, zwischen Alltagsminiaturen und deren satirischen Überzeichnungen.

Ben Hanias Film, den das seit 2007 jährlich im Kino Arsenal stattfindende Festival Afrikamera als Deutschlandpremiere vorführt, demystifiziert die Legende vom Challat nicht, sondern fragt vielmehr, was diese als kultursoziologisches Phänomen zu bedeuten hat.

Herausgekommen ist ein faszinierender Film, dessen kommunikativen Modus man nie ganz zu fassen bekommt, der manchmal verstört und dann wieder brüllend komisch ist. Zum Beispiel, wenn der „Virgin-o-meter“ vorgeführt wird. Ein Gerät, davon ist seine Erfinderin überzeugt, jene (aus China importierte!) Beutel mit Kunstblut vom Markt verdrängen wird, die tunesischen Frauen dabei helfen, in der Hochzeitsnacht ihre Jungfräulichkeit vorzutäuschen – und die damit die Moral der Gesellschaft untergraben. Der bislang behördlich noch nicht zugelassene Jungfrauensensor verfügt über eine Antenne, die in den Urin der Frau getaucht wird und über einen Messzähler. Was der genau anzeigen soll, bleibt ein Betriebsgeheimnis; bei einem Wert über 10 wird jedenfalls von der Heirat abgeraten.

Ben Hanias politisch ambitionierte Fabulierlust passt gut zum Festival, das von zeitgeschichtlichen Fiktionen dominiert wird. Das beginnt mit dem Eröffnungsfilm „Timbuktu“, einer klugen, vielschichtigen Islamismusparabel des mauretanischen Kinopoeten Abderrahmane Sissako, und setzt sich in „Half of a Yellow Sun“ fort, der wohl aufwändigsten Produktion des Programms. Da geht es im klassischen, ausstattungsintensiven Historenfilmstil um die kurze Geschichte des Staates Biafra, einer Region im Südosten Nigerias, die sich 1967 unabhängig erklärt hatte, aber schon nach wenigen Jahren die militärische Überlegenheit des Mutterlands anerkennen musste. Ein guter Film ist daraus zwar nicht geworden, dafür wird die historische Bürgerkriegsepisode zu bruchlos in eine seifenopernartige Erzählung um Liebe, Leid und Eifersucht zweier Zwillingsschwestern übersetzt; als Zeugnis der aufstrebenden, selbstbewussten Kinonation Nigeria taugt der Film allemal.

Die vielleicht größte Entdeckung des Festivals läuft als Abschlussfilm und ist gleich mehrere Budgetklassen niedriger angesiedelt: Hubert Laba Ndaos Debüt „Dakar Trottoirs“ ist ein dynamischer, dreckiger, dabei erstaunlich komplex gebauter Gangsterfilm, der zu weiten Teilen on location auf den Straßen der senegalesischen Hauptstadt gedreht wurde. Und dessen Vorbilder wohl eher in Asien als in Hollywood (oder dem nahen Nollywood) zu suchen sind; die Grundzüge der Geschichte jedenfalls könnte einem Yakuza- oder Triadenfilm entnommen sein: Sirou, dem Boss eines Dealerrings, entgleitet die Macht über seine Gefolgschaft, ein slicker Undercovercop stiftet zusätzlich Unordnung – und dann wird auch noch Salla, seine langjährige Freundin, abtrünnig und lässt sich mit einem zwielichtigen Anwalt ein. Schließlich holt der mehrfach gekränkte Sirou zum Gegenschlag aus. Dem Film mag es an Budget, der Inszenierung hier und da an Routine fehlen; wer über solche vermeintliche Makel hinwegsehen kann, wird jedoch mit einem hochenergetischen Stück Kino beschenkt, mit einem Film, der nicht nur seiner Hauptfigur, sondern auch den Zuschauern wieder und wieder den Boden unter den Füßen wegzieht.

■ Afrikamera 2014: 11.–16. November, Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, Programm unter: www.arsenal-berlin.de