Kinoräume zu Tanzflächen

MUSICAL Mit der Entwicklung des Tonfilms begann die Ära des Hollywood-Musicals. Das Arsenal zeigt die 22 besten Filme aus den Jahren 1933–57

Noch heute kann man streiten, welcher Film auf den Gipfel des Musical-Olymps gehört

VON HELMUT MERKER

Gleich mehrfach sorgt das Musical für ein Goldenes Zeitalter in der Filmgeschichte. Getreu dem Motto „More Stars than in Heaven“ strahlten die Sterne bei MGM niemals heller als in den 50er Jahren. Angefangen aber hat es schon zwei Jahrzehnte zuvor bei Warner Brothers und RKO, als die beiden Großmeister des Genres ins Rampenlicht traten: der Choreograf Busby Berkeley und der Tänzer, Sänger und Schauspieler Fred Astaire.

Wenn nun das Arsenal-Kino 22 Musicals aus 25 Jahren zeigt, könnte man schnell noch einmal so viele zwischen „Gold Diggers of 1933“ und „Silk Stockings“ (1957) aufzählen, die man schmerzlich vermisst. Immerhin sind einige selten gezeigte Filme dabei: In „Stormy Weather“ (1943) spielen ausschließlich schwarze Darsteller, gesungen und getanzt wird da auch schon im Regen; allerdings in einem sehr grauen. „Ziegfeld Follies“ (1945) ist der einzige Film, in dem Fred Astaire und Gene Kelly gemeinsam auftreten; allerdings machen sie nicht viel zusammen. Als Astaire in „Broadway Melody of 1940“ ohne Ginger Rogers auskommen muss, steppt Eleanor Powell virtuos an seiner Seite; allerdings funkt es zwischen den beiden dann doch nie richtig.

Mit den Meisterwerken geht es 1933 los, als die erste Welle der Musicalisierung mit bloß von der Bühne abgefilmten Nummernrevuen überstanden ist. Busby Berkeley macht Schluss mit dem Theater und verwandelt alle Darstellerinnen in Objekte und Ornamente an der Grenze zur Abstraktion; Fred Astaire erobert als Individuum den Raum zurück und wirbelt das Ensemble von der Bildfläche. Der eine tanzt mit der Kamera und sucht sich die exzentrischsten Blickwinkel. Der andere tanzt mit Ginger Rogers, macht dabei Gefühle durch Bewegung sichtbar und bringt so das Musical auf die Beine. Der eine ist das Genie im Erfinden multiplizierter Bewegung. Der andere verwandelt alles in imaginäre Kinoräume, die zu Tanzflächen werden, in Kinoträume, die eintauchen in die Verzauberung.

In „Forty-Second Street“ (1933) tanzen die Chorus Girls mit Plakaten, die die Skyline von New York abbilden, Gebäude bewegen sich im Tanz, Treppenaufgänge werden zu Wolkenkratzern, die Bühnenshow vereint harten Arbeitsalltag und futuristische Illusion. Dagegen wird das Fred-und-Ginger-Land in neun Schwarz-Weiß-Filmen zu einer mythischen Hollywood-Erfindung, egal, ob es sich um London oder Venedig, um Hotels oder Schiffe handelt.

„Er gab ihr Klasse, sie gab ihm Sex“, ist die vielzitierte Definition des Nonplusultra-Paares, aber zwei Jahrzehnte später erlangen zwei neue Musical-Ladys höchste Weihen als Partnerinnen sowohl von Fred Astaire als auch von Gene Kelly: die typische Pariserin mit kindlicher Unschuld und federleichter Grazie, Leslie Caron, und die Verkörperung von „Präzision plus Schönheit und Dynamit“, Cyd Charisse.

Im Sommer 1951 tummelt sich bei MGM ein Musical-Team, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Über allen wacht Arthur Freed, die seltene Kombination von Produzent und Poet, und jeder ist in der Form seines Lebens – außer Fred Astaire, der ist inzwischen im dritten Jahrzehnt ununterbrochen auf dem Gipfel und gerade mit seinem letzten Film mit Ginger Rogers, „The Barkleys of Broadway“, bei MGM angekommen. Nun dreht er „The Belle of New York“ und bereitet „The Band Wagon“ vor, während Gene Kellys „An American in Paris“ am Schneidetisch bearbeitet und die Studiohalle für „Singin‘ in the Rain“ unter Wasser gesetzt wird.

So kann man 60 Jahre danach immer noch trefflich darüber streiten, welcher Film, welche Sequenz auf den Gipfel des Musical-Olymps gehört: Gene Kellys einsames Glückssolo im Regen – oder die Ballett-Hommage an die Vorbilder des Amerikaners in Paris, an die impressionistischen Maler mit ihren märchenhaft verschönten Stätten Montmartre, Moulin Rouge, Place de la Concorde, an denen Gene Kelly und Leslie Caron einander finden und verlieren, einander finden und verlieren.

Das Traumpaar in Schwarz-Weiß, mit Fred Astaire in „Top Hat, white tie and tails“ und mit Ginger Rogers im weißen fließenden Abendkleid – oder die lasziven Auftritte von Cyd Charisse, die Gene Kelly um Sinn und Verstand bringen („Singin’ in the Rain“) und Fred Astaire zu einer Mickey-Spillane-Figur machen („The Band Wagon“) in einem Film-noir-Musical: eine Explosion in Technicolor – dazu dann mehr in der Retrospektive der nächsten Berlinale.

■ „All Singing! All Dancing!“, Hollywood-Musicals 1933–57: Arsenal, Potsdamer Straße 2, 12. Dezember 2014 – 18. Januar 2015