Kein Ausweg außer Wodka

FESTIVAL Düster und bitter, aber wenig geschwätzig: In vielen Filmen der zehnten Ausgabe von „Filmpolska“ wird hemmungslos gesoffen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Vergangenheit Polens

Psychedelische Kamerafahrten durch den Säuferrachen in einen Tümpel voller Wodka und Zigaretten

VON JENNI ZYLKA

Die Töle ist so groß wie Frauchen. Wenn ihr Hund neben Anna am Esstisch sitzt und nachdenklich seine Lefzen hochzieht, ähneln die beiden einem Liebespaar. Anna ist die Therapeutin der bulimischen Olga, die, genau wie ihr Vater, mit dem Tod der Mutter kämpft. Der Vater trinkt, die Tochter kotzt, die Therapeutin, die selbst einen Verlust erlitt, versucht derweil, Kontakt mit der Verstorbenen aufzunehmen: Malgorzata Szumowskas Film „Body“, der 2015 im Wettbewerb der Berlinale einen Silbernen Bären bekam, ist trotz Tragik und Krankheitsbildern enorm vergnüglich. Denn Szumowska liebt ihre Figuren, versteht die Not, die sie zu Spiritistinnen, Säufern oder Essgestörten macht. Sie erzählt, wie sich am „Body“ der Beteiligten deren Gefühlswelt widerspiegelt. Dass dabei überhaupt nur einer zur Flasche greift, ist – betrachtet man das Programm des zehnten „Filmpolska“-Festivals, das am Mittwoch startet – eher ungewöhnlich.

Denn was im polnischen Kino der Gegenwart weggeschluckt wird, geht auf keine Kuhhaut: In „Haus der Finsternis“, ein sich durch Rückblenden erschließendes Kammerspiel um einen multiplen Mord in einer verlotterten Hütte, beschreibt der Verdächtige den versoffenen Polizisten seinen Alkoholkonsum in Gramm. Der Film läuft in einer Reihe, die zwei polnischen Kameramännern gewidmet ist, und im Haus der Finsternis scheint die Kamera tatsächlich mitzutrinken, mitzuschwanken – sie macht aus dem Fargo-artigen Setting mit Schnee, einer schwangeren Hilfspolizistin und einem verängstigten Zeugen ein düsteres Drama, das am Ende klar zeigt: Es gibt keinen Ausweg außer Wodka.

Doch schlimmer geht’s immer. Wojciech Smarzowski hat Jerzy Pilchs Säuferroman „Zum starken Engel“ verfilmt, und den Alkoholikeralltag keineswegs schöngemalt. In lallenden, verzweifelten, selbstzerstörerischen Szenen schwankt Robert Wieckiewicz als des Autors Alter Ego in Reha und Kneipe ein und aus, verliebt sich, kotzt, pinkelt in seinen Schrank, deliriert bis fast zum Exitus und schwebt im Binge-Rausch durch graue, vorstädtische, schneebedeckte Straßen. Fast psychedelisch sind Smarzowskis Fahrten durch den Säuferrachen in einen Tümpel voller Wodka und Zigaretten – das ist bitter, aber visuell nicht minder beeindruckend. In die Kneipe will man nach dem Film allerdings eher nicht gehen.

Neben der Psyche, der sich die meisten der vorgestellten Filme angenehm wenig geschwätzig widmen, und einer Agnieszka-Holland-Werkschau, setzen sich Polens Filmschaffende im Jubiläumsjahr stark mit der Vergangenheit ihres Landes auseinander. „Jack Strong“ erzählt die wahre Geschichte des Spions Ryszard Kuklinski. Der Film bleibt dabei eher brav und packt sämtliche Action in die Dialoge. Allerdings gibt es eine Autoverfolgungsjagd im Schnee, die durch witterungsbedingte Langsamkeit herrlich nervenzehrend ist. Das Leben Lech Walesas hat Andrzej Wajda verfilmt, wiederum mit dem großartigen Robert Wieckiewicz als Schnäuzerträger, und dabei den Schwerpunkt auf den Privatmann Walesa gelegt. Jerzy Stuhr spielt und inszeniert in „Citizen“ die Geschichte eines Mannes als Deklination entlang der polnischen Geschichte: Ein Politiker, der fast von einem Neonbuchstaben erschlagen wird, kommt ins Krankenhaus. Wie Trelkovsky in Polanskis „Der Mieter“ liegt er fortan mit bis auf die Augen eingegipsten Gesicht im Bett und lässt sein Leben Revue passieren.

Am allerschönsten, überzeugendsten und anrührendsten hat jedoch der dafür vielfach ausgezeichnete Pawel Pawlikowski sein Verhältnis zur polnischen Geschichte auf die Leinwand gebracht: In „Ida“, der skandalöserweise nur kurz in Deutschland lief und jetzt als Eröffnungsfilm eine weitere, unbedingt zu nutzende Chance bekommt, erzählt er von Ida, einer katholischen Novizin, die sich mit ihrer bis dato unbekannten Tante auf eine Reise durch das Polen der frühen 60er Jahre macht. In schwarz-weißen, formal strengen und dennoch emotional hoch aufgeladenen Nouvelle-Vague-Bildern erkennt Ida, wie tief der Antisemitismus, dem ihre Eltern zum Opfer fielen, in Polens Knochen steckt. Und gesoffen wird selbstredend auch: Idas Tante, die „Rote Wanda“, kippt erst einiges in sich hinein, und dann zu Klassikklängen aus dem Fenster. Ein toller Film.

■ Filmpolska, 22. bis 29. 4., in diversen Kinos, Infos und Programm: www.filmpolska.de