Lucy und das alltägliche Sterben auf den Straßen

MEXIKO Als Polizeireporterin in Ciudad Juárez sieht Luz del Carmen Sosa an guten Tagen nur ein Dutzend Tote. Auch im Rest des Landes zählt ein Menschenleben nicht viel – und das von Journalisten besonders wenig

Internationale Presseorganisationen wie Reporter ohne Grenzen haben die mexikanische Regierung schon mehrfach aufgefordert, mehr für die Sicherheit von Journalisten zu tun und sich um die Aufklärung der Morde zu kümmern. Doch in kaum einem der 62 gewaltsamen Todesfälle von Pressevertretern seit dem Jahr 2000 konnten die Behörden bislang die Täter identifizieren. Und weil nur die wenigsten Morde geahndet werden, geschehen immer mehr

AUS CIUDAD JUÁREZ UND OAXACA DE JUÁREZ KNUT HENKEL

Säuberlich aufgereiht stehen die Patronenhülsen auf dem Aktenschränkchen neben dem Schreibtisch von Luz del Carmen Sosa – Erinnerungsstücke, wie die Steine, die Glasscherbe oder der Streifen Absperrband. Von welchen Tatorten sie stammen, kann die Polizeireporterin vom El Diario nicht mehr auseinanderhalten, dafür hat sie zu viele gesehen.

Luz del Carmen Sosa, die alle in der Redaktion nur Lucy rufen, arbeitet in der gefährlichsten Stadt von Mexiko – in Ciudad Juárez. Dort, an der Grenze zu den USA, vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo ein Mordopfer aufgefunden wird. 32 Tote hat Lucy Sosa an ihrem bisher härtesten Tag, Ende April, gezählt. Auf die Titelseite ihrer Zeitung schaffen es nur die wenigsten Opfer. „Kaum einer dieser Morde wird aufgeklärt werden“, sagt die Polizeireporterin: „Straflosigkeit ist längst zum Markenzeichen unserer Stadt und letztlich des ganzen Landes geworden.“ Dann deutet sie auf einige Zeitungsausschnitte, die sie zur Erinnerung an einen Kollegen an die Stellwände ihrer kleinen Arbeitsecke im Großraumbüro vom El Diario geheftet hat.

Der Mord an „El Choco“

Gemeinsam mit „El Choco“, wie Armando Rodríguez wegen seiner dunklen Hautfarbe genannt wurde, war sie für die Berichterstattung über Gewalttaten und deren Hintergründe in Ciudad Juárez verantwortlich. Bis Rodríguez am 18. November 2008 seine Tochter in die Schule bringen wollte. „An der nächsten Ampel wurde er von zwei Killern erschossen“, erzählt Lucy Sosa. Der Fotograf Luis Soria mahnt zum Aufbruch. Noch ein kurzer prüfender Blick in die Tasche, dann ist auch sie bereit für einen weiteren Arbeitstag in der Wüstenstadt aus Fabrikhallen, Backsteinbaracken und Schnellstraßen.

Draußen neben dem Eingang hängt eine weiße Plane, „Wir fordern Gerechtigkeit für El Choco“, steht in dicken Lettern darauf. Der Redaktion ist der Tod des Kollegen eine Warnung. „Lucys Name“, sagt Fotograf Soria, „steht nur noch unter einem Teil ihrer Artikel“ – eine Vorsichtsmaßnahme. Eine weitere ist, dass Reporter und Fotograf nur gemeinsam losziehen. Alle Redaktionen in Ciudad Juárez halten das so. Denn Mexiko ist – im vom Drogenkrieg geprägten Norden wie im ärmlichen Süden – das gefährlichste Pflaster für Journalisten zwischen Alaska und Feuerland und droht zum gefährlichsten weltweit zu werden.

„El Choco“ war nur einer von zwölf Journalisten, die 2008 ermordet wurden, ebenso viele waren es 2009. Im ersten Quartal dieses Jahres starben schon fünf Kollegen einen gewaltsamen Tod. Wegen dieser verheerenden Statistik haben internationale Presseorganisationen wie Reporter ohne Grenzen die Regierung in Mexiko-Stadt schon mehrfach aufgefordert, mehr für die Sicherheit von Journalisten zu tun und sich um die Aufklärung der Morde zu kümmern. Doch in kaum einem der insgesamt 62 gewaltsamen Todesfälle von Pressevertretern seit dem Jahr 2000 konnten die Ermittlungsbehörden bislang die Täter identifizieren. Und weil nur die wenigsten Morde geahndet werden, geschehen immer mehr.

Gerade sind Lucy Sosa und ihr Kollege Luis Soria an einem Tatort im Süden der Stadt eingetroffen. Die Polizei sieht die Reporter nicht gern, verbreiten sie doch, was die Behörden zu gern unter den Teppich kehren würden. Die Journalisten wiederum trauen den Polizisten nicht über den Weg, weil immer wieder Fälle von Korruption bekannt werden, von Zusammenarbeit mit den Kartellen. Der Argwohn gipfelt darin, dass Journalisten am Tatort manchmal sogar gefilmt werden – von der Polizei und von Angehörigen. „Die einen filmen, weil sie festhalten wollen, welche Redaktionen am Tatort waren, die anderen, weil sie denken, dass die Täter an den Tatort zurückkommen“, erklärt Lucy Sosa.

Die Kollegen vom Norte, der Nachrichtenagentur La Polaca und von TV Azteca sind schon da und schwirren rund um den Tatort. Vor dem eingezäunten Einfamilienhaus steht ein Leichenwagen, zwei stämmige Männer tragen einen Zinksarg hinein. Neben der Tür und auf der Straße sind angetrocknete dunkle Blutlachen zu sehen. „Insgesamt sechs Jugendliche sind hier letzte Nacht von einem Killerkommando erschossen worden“, sagt Lucy Sosa. Sie hat mit mehreren Frauen aus der Nachbarschaft gesprochen, die ihre Kinder in den benachbarten Kindergarten bringen. Zwischendurch hält sie immer mal wieder Ausschau nach Kollege Soria. Der fotografiert gerade, wie die Männer den Sarg mit der Leiche in den schwarzen Kombi des Bestattungsunternehmens schaffen. Die misstrauischen Blicke von Soldaten und Bundespolizisten spüren die beiden kaum noch.

„Respekt gegenüber den Medien ist in Mexiko dünn gesät“, sagt Sara Lovera. Sie gehört zu Mexikos populärsten Journalisten und kritisiert die fehlende Unabhängigkeit der großen Medienunternehmen von der Politik. „Die Journalisten sind nur ausführendes Organ der redaktionellen Leitlinie und die wird nach ökonomischen und politischen Kriterien definiert. Entweder sie zensieren sich selbst oder sie werden zensiert“, analysiert Lovera, früher Redakteurin von La Jornada, dem Flaggschiff der kritischen Presse in Mexiko.

Hoffnung auf neue Medien

Heute, mit Anfang sechzig, arbeitet sie als Radioredakteurin, Korrespondentin eines alternativen Nachrichtenportals und Medienberaterin. Sie setzt ihre Hoffnungen auf neue, alternative Medien: Internetradios, alternative Nachrichtenseiten und Info-Rundmails haben in den letzten Jahren in Mexiko an Boden gewonnen. „Sie haben dafür gesorgt, dass viele Mexikaner heute besser informiert sind als früher. Allerdings sind diese Informationen nicht immer überprüft und für uns Journalisten nur bedingt verwertbar“, erläutert sie.

Doch es gibt auch Ausnahmen wie das Internetradio Sin Muros aus Oaxaca de Juárez, der Hauptstadt des Bundesstaates Oaxaca. Da muss ein bisschen Eigenwerbung erlaubt sein: „Wir arbeiten professionell, checken unsere Informationen und können beispielsweise belegen, dass der ehemalige Medienkoordinator der Regierung eine eigene Zeitung besitzt, die regelmäßig aus dem Staatssäckel beachtliche Summen erhielt“, sagt Geovany Vásquez Segrero.

Der Anwalt in den Vierzigern ist Quereinsteiger in der Medienbranche. Erst durch einen Mandanten ist er zum Radio gekommen und hat dann gemeinsam mit Ismael Rivera, einem gelernten Journalisten, und einer Hand voll engagierter Freunde den unabhängigen Sender ins Netz gestellt. Dessen Nachrichten werden mittlerweile von acht kommunalen Radios wie Radio Totopo oder Radio Calenda übernommen.

Vor allem im traditionell schlecht erschlossenen Süden des Landes sind die kommunalen Radios eine erfolgreiche Alternative. Geovany Vásquez unterstützt sie nach Kräften: als Anwalt, um Sendelizenzen für die Gemeinden zu erstreiten, und als Journalist, um Informationen in die abgelegenen Dörfer und Gemeinden Oaxacas zu bringen.

Der Bundesstaat gilt gemeinsam mit den Nachbarstaaten Guerrero und Chiapas als Armenhaus der Vereinigten Staaten von Mexiko und wird seit nunmehr rund achtzig Jahren von der Partei der institutionalisierten Revolution, der PRI, regiert. Ein Bärendienst für die Pressefreiheit, denn die meisten Redaktionen sind finanziell abhängig von den Inseraten der Regierung. Das macht sich im derzeitigen Wahlkampf negativ bemerkbar. „Die Kassen der PRI sind gut gefüllt und wir sind weder bereit noch in der Lage, für Berichterstattung zu zahlen“, erklärt Padre Francisco Wilfredo Mayrén Peláez. Der katholische Geistliche gehört zum oppositionellen Wahlbündnis in Oaxaca und weiß von zahlreichen Angriffen auf Journalisten.

Journalistenfeind Staat

Oaxaca gilt genauso wie der Nachbarstaat Guerrero als gefährliches Pflaster für Berichterstatter, die sich dem herrschenden Sitten nicht unterwerfen wollen. „Besonders riskant ist es in den ländlichen Regionen, wo die lokalen Kaziken regieren. Wer sich gegen sie stellt …“ – weiter spricht Sara Lovera nicht. Wer als Journalist in Mexiko auf seine Unabhängigkeit Wert legt, weiß, wie wenig sein Leben vielen wert ist – auch Politikern, Behörden und sonstigen staatlichen Stellen.

In Ciudad Juárez schaltet Lucy Sosa nach einem langen Arbeitstag ab – zuerst den Computer, dann auch den Kopf. Sie lässt einen letzten kurzen Blick über ihre bizarre Souvenirsammlung gleiten, die sie längst nicht mehr erweitert, packt das Handy in die Handtasche und fährt nach Hause. Ein gutes Dutzend Tote hat sie heute gezählt – Alltag der Gewalt in Mexiko. Und ihr Beruf.