Hier hebt der Chef persönlich ab

WIKILEAKS-KLONE I Schafft ein, zwei, viele Enthüllungsportale. Überall in der Welt wird geleakt, auch die WAZ-Gruppe bietet einen toten Briefkasten für anonyme Hinweise

Anonymität ist wichtig. In Deutschland droht Informanten zwar keine Folter, aber durchaus ein Jobverlust

VON THOMAS STROTHJOHANN

Nicht nur die US-Regierung hat Geheimnisse. Auch im Ruhrgebiet wird gekungelt – und geleakt: Die WAZ-Mediengruppe hat www.derwesten.de ein Upload-Tool spendiert und hofft auf brisante Dokumente aus Ministerien und Vorständen.

Seit Dezember 2010 können Informanten Dateien und Dokumente auf derwesten-recherche.org anonym hochladen. Die Idee dazu hatte David Schraven, der im Mai die Welt und das Ruhrbarone-Blog verließ, um das Rechercheressort der WAZ zu leiten: „Wikileaks ist doch nichts anderes als ein anonymer Briefkasten“, dachte er sich und warb bei seinen neuen Chefs für das Projekt, in das die WAZ-Gruppe 10.000 Euro investiert hat.

Schraven versichert, dass die Dateien verschlüsselt übermittelt werden und auch die Redaktion nicht einsehen kann, wer sie über das Tool verschickt. Auch sogenannte Metadaten, etwa von PDF-Dokumenten, werden entfernt. Dieser technische Deckmantel motiviert: Im Rechercheblog listet das Team stolz Geschichten auf, die durch Hinweise oder anonyme Uploads zustande gekommen sind.

So spielte ein Informant ihnen Unterlagen aus einer Vorstandssitzung des Energieversorgers Steag zu, der vom Stadtwerke-Konsortium Rhein-Ruhr übernommen wurde. Sie zeigen, dass der Plan der Stadtwerke viel gefährlicher für die Kassen der Kommunen sein könnte, als zuvor bekannt. Im Falle einer aktuellen Recherche über Vorgänge im Bistum Limburg versucht Schraven Kontakt zu Informanten aufzubauen.

Wenn man die Nummer des Rechercheteams wählt, hebt David Schraven persönlich ab. Seiner Meinung nach müssen Rechercheure direkt erreichbar sein – ohne Warteschleife und Umweg über die Zentrale. Sie müssen vertraulich mit den Informanten umgehen und dann brauchen sie noch ein Medium, das öffentlich stark wahrgenommen wird – „Dann klappt das, dann kommen die Infos.“

Direkte Durchwahlen und anonyme E-Mail-Adressen ziehen natürlich auch Verschwörungstheoretiker, Paranoide und Manipulatoren mit unbrauchbaren Informationen an. „Da kommt natürlich auch richtiger Bullshit“, sagt Schraven. 50 Prozent der Eingänge seien Spam. Aber der andere Teil kann der Ausgang einer neuen Recherche sein. Bis zur Verifizierung der Dokumente funktioniert die Datenklappe der WAZ genauso wie WikiLeaks, aber dann trennen sich die Wege: Während WikiLeaks die Dokumente im Original veröffentlicht, nutzen Schraven und seine vier Kollegen sie nur als Quelle – „Denn ein Leak ist noch lange keine Geschichte.“

Schraven ist der Ansicht, dass veröffentlichte Dokumente immer Informanten oder die nächsthöhere Ebene – also die Informanten der Informanten – gefährden. Besonders in Ländern wie Afghanistan könnten dann alle Inhaber eines Dokuments gefoltert werden, um herauszufinden, wer es herausgegeben hat. In Deutschland droht zwar keine Folter, aber in vielen Fällen Jobverlust. Beispielsweise bei internen Papieren, die für jeden Mitarbeiter individuell verändert werden, um herauszufinden, wer seine Version der Presse zugespielt hat.

Weil das Original-WikiLeaks von der Masse der US-Depeschen, den politischen Folgen ihrer Veröffentlichung und ihren internen Streitigkeiten überfordert zu sein scheint – seit einem halben Jahr ist der Upload schon gesperrt –, entstehen derzeit jede Menge neue Enthüllungsplattformen. Das prominenteste Projekt ist OpenLeaks, die von Daniel Domscheit-Berg und anderen ehemaligen Wikileaks-Mitarbeitern gegründet wurde, aber bis heute nicht arbeitsfähig ist.

Auch die New York Times plant ein eigenes Whistleblower-Portal. Dazu kommen Plattformen mit regionalem Fokus: Brussels Leaks wird angeblich von unabhängigen und anonymen Brüsselern aus der Kommunikations- und Medienbranche betrieben. In Russland gibt es inzwischen verschiedene Leak-Portale: RuLeaks.net veröffentlichte anfangs nur Wikileaks-Material mit Russlandbezug. Inzwischen gibt es aber auch „eigene“ Leaks: So publizierten die unbekannten Macher Fotos eines Protzbunkers bei Sotschi, der anderen Quellen zufolge mit dubiosen Spendengeldern für Premier Wladimir Putin gebaut werden soll (taz vom 15. 2.).

Der russische Journalist und Blogger Alexei Navalni nimmt das Risiko auf sich und bekennt sich zu rospil.info, ebenso der regierungsnahe Sergei Gorschkow, der auf Compromat.ru positive Leaks sammelt, und sein Gegner Wladimir Pribilowski mit Anticompromat.ru.

Die Plattform für den Balkan (BalkanLeaks.org) wird von Bulgaren im Pariser Exil betrieben, in Indonesien wurde indoleaks.org gegründet.

Wie relevant die neuen Plattformen sind, hängt vor allem davon ab, ob sie glaubwürdige Informanten oder Verschwörungstheoretiker anziehen. Schraven ist jedenfalls zuversichtlich, dass ihm bald jemand geheime Dokumente zum Loveparade-Unglück vom letzten Jahr zuspielt.