Talent zur Hingabe

VIELFALT Als Schauspielerin und Dokumentarfilmstudentin lebt Annika Blendl ihr Streben nach Unabhängigkeit und Entfaltung aus

Annika Blendl packt mindestens drei Leben in eines. Eindimensionalität ist ihr ein Graus

VON DAVID DENK

Als Annika Blendl 13 war, ist sie mit einer Freundin zwei Wochen lang durch Italien gereist, Ferrara, Lucca, Ravenna. In Venedig sind sie ihrer Jugendgruppe ausgebüchst, haben auf der Straße geschlafen, „hinter Blumenkübeln, weil wir kein Geld für ein Hotel hatten“. Damit niemand sie sucht, hatte Blendl eine ihrer zwei Schwestern gebeten, eine Einverständniserklärung mit den gefälschten Unterschriften der auch verreisten Eltern durchzufaxen. Blendl fand die fremde Umgebung vor allem aufregend. „Da hätte man wahnsinnige Angst haben können“, sagt sie. Hätte. „Ich hatte aber nie ein Problem damit, den Kopf auch mal auszuschalten.“

In dieser alten Geschichte steckt schon viel drin, was die 30-Jährige heute noch auszeichnet: ihr Freiheitsdrang, der sich im ständigen Streben nach Unabhängigkeit und Entfaltung äußert. „Ich habe immer Hummeln im Hintern“, sagt sie. Annika Blendl packt mindestens drei Leben in eines. Eindimensionalität ist ihr ein Graus.

Am Wochenende ist die Schauspielerin Annika Blendl in gleich zwei Fernsehfilmen zu sehen: Im „Bella Block“-Krimi „Stich ins Herz“ (Sa., 20.15 Uhr, ZDF; Regie: Stephan Wagner) spielt sie eine lebenspralle Kellnerin, die ermordet wird, und am Sonntag ist sie im Münchner „Tatort: Ein ganz normaler Fall“ (20.15 Uhr, ARD; Regie: Torsten C. Fischer) als verschüchterte orthodoxe Jüdin zu sehen – an der Seite ihres Lebensgefährten Alexander Beyer, mit dem sie einen dreijährigen Sohn hat.

Außerdem läuft am Mittwoch das Fernfahrerdrama „Transit“ (23.40 Uhr, BR) mit Blendl, und am 12. Januar startet „Reality XL“ im Kino, ein Independentfilm, der ihr besonders am Herzen liegt, weil ihr „der Einsatz und die Kompromisslosigkeit imponieren, mit der Tom Bohn sein Ding durchgezogen hat“. Er schrieb, inszenierte und produzierte den Psychothriller ohne Geld und Einfluss vom Fernsehen, von Filmförderern oder Verleihern. Finanziert hat Bohn „Reality XL“, indem er seine Lebensversicherung aufgelöst hat.

Diese Selbstermächtigung ist Annika Blendl sehr sympathisch, weil sie weiß, wie zermürbend die unfreiwilligen Pausen und Leerläufe im Leben eines Filmschaffenden sein können, die Abhängigkeiten von einem unberechenbaren Markt. Als Konsequenz daraus hat sie ein Regiestudium angefangen – Dokumentar-, nicht Spielfilm. „Ich wollte nicht ausgeliefert sein“, sagt sie, „nicht diejenige, die sitzt und wartet, sondern diejenige, die macht.“ Gleich im ersten Anlauf wurde sie 2009 an der Münchner Filmhochschule angenommen, gerade schneidet sie ihren 60-minütigen Vordiplomfilm über einen Hochstapler.

Für Dokumentarfilm entschieden hat Blendl sich, weil sie sich da wie in ihrer Arbeit als Schauspielerin auf Menschen konzentrieren kann, auf Charaktere, wie ihren Hochstapler, der sich erst während des Drehs als solcher entpuppte, zuerst hielten Blendl und ihre Koregisseurin ihn nur für einen Exknacki. „Ich denke mir immer: Wenn ich ein Drehbuch für einen Spielfilm schreiben sollte, würde ich nie auf so interessante Plots mit so vielen spannenden Wendungen kommen.“ Und trotzdem entwickelt Blendl gerade ein Drehbuch für einen Spielfilm, könnte sich auch vorstellen, mal einen zu inszenieren, aber vom Naturell her passe sie schon besser ins dokumentarische Fach, „weil man da eher beobachtet und weniger offensiv die Richtung vorgeben muss“, sagt sie und stellt klar: „Ich bin aber auch nicht die schüchterne Frau, die sich gar nicht rauswagt.“

Außer wenn es um ihre Selbstvermarktung geht: Interviews zieht Blendl öffentlichen Auftritten vor – ein Defizit, dessen sie sich bewusst ist: „Es ist nicht so, dass ich mich bei solchen Veranstaltungen unterm Tisch verstecken würde, allerdings wäre es natürlich schon geschickter, ich würde mich öfter auf Partys zeigen. Aber wenn man das nur halbherzig macht, bringt es auch nichts.“ Objekt will Blendl nur in ihren Rollen sein.

Rollen wie Caroline, die Nichte einer alten Freundin von Bella Block. „Für die Figur hat sie perfekt gepasst“, sagt Regisseur Stephan Wagner, der Blendls „sinnliche Ausstrahlung“ herausstellt und „ihr unvorhersehbares, vereinnahmendes Spiel“: „Wenn Annika eine Szene spielt, ist das keine 08/15-Situation.“ Erklären kann Wagner das nicht. „Dem Ganzen wohnt ein Zauber inne, aber wie das genau funktioniert, weiß weder der Zauberer noch das Kaninchen.“

Dass Annika Blendl nie eine Schauspielschule besucht hat, liegt an ihrer großen Schwester Mareile, Theaterschauspielerin mit klassischer Ausbildung, dass sie sich von der Bühne fernhält, auch. Sie wolle Mareile „ihr Feld überlassen“, sagt Annika. Es fällt ihr nicht schwer. „Fürs Theater bin ich zu wenig Rampensau“, sagt sie, „da liegen mir die sanften Töne im Film mehr, dieses Zuschauende, Leise.“

„Machen“ heißt eine Rubrik auf Mareile Blendls Website. Und das verbindet die Schwestern doch, auch mit dem Rest der großen Familie. „Wir sind alle sehr umtriebig“, sagt Annika Blendl, „keine Phlegmatiker, und vielseitig.“ Ihre Mutter bewundert sie dafür, dass die Soziologin sechs Kinder großgezogen, noch mal studiert und mit 55 einen neuen Job begonnen hat. „Ihr Tempo ist noch höher als meins.“

Vor dem Studium ist Blendl für ein Jahr nach Rom gezogen. „Ich wollte die Fremde, ich wollte das Neue, ich wollte wieder häufiger überrascht werden von einer Stadt.“ Es war auch eine Flucht aus Berlin, wohin Blendl wiederum nach dem Abi geflüchtet war. Mittlerweile wohnt sie in Bayern auf dem Dorf, „in einem Ort, wo keiner Schauspieler ist“, außer Blendl und ihrem Freund, „eine Wohltat! Dieses Im-eigenen-Saft-Schmoren hat mich in Berlin zuletzt genervt.“

Nicht mehr als mal ein verlängertes Wochenende Urlaub hat Annika Blendl sich und ihrer Familie in den letzten zwei Jahren gegönnt. Disziplin bestimmt ihr Leben. Zu 95 Prozent gefalle ihr der Dreiklang aus Beruf, Studium und Familie, „zu 5 Prozent ist es wirklich zu viel.“ Auch wenn sie überrascht ist von ihrer Belastbarkeit und vor allem dem „Speicherplatz meines Hirns“, weiß Blendl, dass ihr Lebensentwurf auf Dauer nur funktionieren kann, „wenn ich mich phasenweise entweder für den Dokumentarfilm oder die Schauspielerei entscheide“. Das Tempo werde sie wohl beizeiten drosseln müssen, „aber die Vielfalt, die werde ich durchhalten.“ Denn: „Ich will beides machen.“

Regisseur Stephan Wagner weiß um die Probleme von vielseitig Begabten. „Jemand, der mehr als ein Talent hat, braucht mehr Kraft, um mit den einzelnen Talenten zu überzeugen“, sagt er, „denn das ist ungewöhnlich und wird entsprechend argwöhnisch beäugt.“ An der Filmhochschule, sagt Annika Blendl, habe sie sich doppelt beweisen müssen, „weil einige schon gedacht haben: Wenn der nächste Film kommt, ist die wieder weg.“ Aber sie ist immer noch da.

Und das mit voller Kraft. Was Blendl in ihren beiden Professionen ausleben kann, ist ihr drittes Talent, das zur Hingabe. „Es gibt beim Regieführen wie beim Spielen einen Punkt, an dem man nicht mehr reflektieren darf, nicht mehr zweifeln, an dem man sich gehen lassen muss.“ Wie damals in Venedig, als zwei „noch nicht mal richtig pubertierende Girls“ in ihr bis dahin größtes Abenteuer aufgebrochen sind.