„Ich wollte es verstecken, wegmachen“

DRIN 3sat zeigt heute seinen Thementag zur Inklusion. Lea Streisand und Dennis Meier haben körperliche Behinderungen. Ein Gespräch über Ausgrenzung und Anderssein

„Ich habe lange gebraucht, bis ich mich als vollwertiger Mann fühlte“

DENNIS MEIER

Aus Anlass des Welttags der Menschen mit Behinderung sendet 3sat heute ab 17 Uhr „Besonders normal“. Ein halber Fernsehtag zum Thema Inklusion. LEA STREISAND
und DENNIS MEIER haben sich die Doku „Jonathan“ (21.40 Uhr) von Sarah Sandring über einen Jugendlichen mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte angesehen. Danach haben die beiden über den Film und ihr eigenes Leben diskutiert. Dennis Meier ist freischaffender Künstler. Er lebt in Berlin mit seiner Frau und seinem fünfjährigen Sohn. Er hat eine angeborene Muskelerkrankung und ist auf Rollstühle und andere Hilfsmittel angewiesen. Lea Streisand ist freischaffende Schriftstellerin, lebt in Berlin und hat einen Gehfehler, der wahrscheinlich durch Sauerstoffmangel bei der Geburt verursacht wurde.

Streisand: Mich hat der „Jonathan“ sehr berührt. Als er in den OP gefahren wurde, hab ich angefangen zu heulen. Der Satz „Das ist ja auch nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung, so viel Zeit im Krankenhaus zu verbringen“, der trifft es. Ich bin da traumatisiert. Man fühlt sich so fürchterlich ausgeliefert, oder? Ich hasse das.

Meier: Ich bin antitraumatisiert. War schon als Baby zu lange dort, so dass ich meine Bezugspersonen eher dort hatte, was schwierig in der Beziehung zu meiner Mama später wurde. Ich fand den Film super. Jonathan macht einfach, das schätze ich sehr.

Streisand: Die kleinen Scheißer aus der Schule haben ihn gemobbt, und er lässt sich gar nicht unterkriegen und sucht sich andere Leute.

Meier: Das ist ein wichtiger Punkt beim Thema Inklusion. Ich finde eben, dass Inklusion nur dort funktioniert, wo gemeinsam von selbst inkludiert wird. Dazu zähle ich beide Seiten. Das können sich ja die anderen Schüler und Jonathan nicht aussuchen. Sondern sie wurden da reingeworfen und müssen lernen, damit umzugehen. Wenn es früh passiert, wie in der Doku, funktioniert das eben besser.

Streisand: Ich kann mir vorstellen, dass Jonathan zu erwachsen ist für seine Mitschüler und sich anderseits nicht in deren Diskursen bewegt. Aussehen ist ihm zum Beispiel wurscht.

Meier: Das fand ich auch interessant, diese völlige Abkehr vom Aussehen. Gleichzeitig aber das Beobachten, Klassifizieren, Einordnen der Natur. Schön fand ich das Gleichnis vom Seeadler, der alles von oben sieht, gleichwertig, nebeneinander. Ein gutes Beispiel für Inklusion.

Streisand: Ich glaube, ich kann deswegen gut beobachten, weil ich immer dachte, ich pass nicht rein. Darum bin ich Schriftstellerin geworden.

Meier: Ich kenne das auch. Aber bei mir war es eher so, dass ich eine Heimat haben wollte, eine nicht behinderte Normalität. Hast du das Gefühl, dass man als Gehandycapte mehr machen muss, um zu kompensieren? Mehr wissen, besser rechnen, toller schreiben? Ich hatte bei der Doku das Gefühl, dass Jonathan vor allem dort akzeptiert wurde, wo er mehr leisten konnte.

Streisand: Das ist die generelle Gleichberechtigungsfrage, oder? Ich hab mich auf die Lesebühnen und damit in eine reine Männerszene hineinbegeben, da war meine Behin-derung gar kein Thema, das haben die meisten erst Jahre später gemerkt. Auf der Bühne lauf ich ja nicht rum.

Meier: Sind die Leute überrascht, wenn sie es merken?

Streisand: Ja. Jakob Hein, der ist Arzt, hat nach fünf Jahren ge-fragt: „Ey, sag mal, wie läufst denn du?“ Mittlerweile gehe ich damit offener um, ich sage es den Leuten vorher und die freuen sich, weil man ihnen die Unsicherheit nimmt.

Meier: Man muss erst mal selbst mit seiner Behinderung cool sein. Ich habe lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass meine Muskulatur mein Leben bestimmen wird. Bis letztes Jahr etwa. Durch meinen Sohn habe ich angefangen, mich mehr mit mir zu beschäftigen. Das war nötig und hilfreich.

Streisand: Ich erinnere mich, wie schockiert ich mit Mitte 20 war, wenn Leute mich als behindert bezeichneten. Ich habe nicht gepeilt, dass sie es als Teil von mir begriffen.

Meier: Also hast du es nicht als Teil von dir gesehen?

Streisand: Ich wollte es verstecken, wegmachen, kompensieren.

Meier: Man will sich anpassen. Aber so funktioniert Inklusion nicht.

Streisand: Was hast du eigentlich genau?

Meier: Das ist ein interessanter Punkt: Obwohl wir beide eine Einschränkung haben, fällt es schwer, den anderen auf seine Behinderung anzusprechen.

Streisand: Meine ist simpel: Infantile Zerebralparese. Hat jeder.

Meier: Ich hab eine unbekannte Form einer Muskelkrankheit. Bisher ist sie nicht fortschreitend. War Behinderung und erste Liebeserfahrungen ein Problem?

Streisand: Nee. Gar nicht. Tanzen, ficken, Fahrrad fahren. Da bin ich mit meinem Körper im Reinen. Unglücklich war ich trotzdem. Ich hatte Angst, dass andere merken, dass ich nicht richtig laufen kann, und mich deshalb nicht mögen.

Meier: Ich war auch immer unglücklich. Das war stets etwas, wo mir der Körper im Weg stand. Liebe und vor allem Sex hat ja sehr viel mit Körperlichkeit zu tun.

Streisand: Das glaub ich. Vor allem, weil ich meine Wackeligkeit ja noch als mädchenhaft beschützenswert verkaufen kann.

Meier: Ich habe lange gebraucht, bis ich mich als vollwertiger Mann fühlte, weil Männlichkeit auch über den Körper vermittelt wird.

Streisand: Wann war dein erster Sex?

Meier: Spät, mit 22 oder 23. Ich habe eine Dienstleistung in Anspruch genommen, was ich aber doof fand. Es war nur eine kurzfristige körperliche Bestätigung.

Streisand: Und jetzt hast du eine Frau und einen Sohn! Voll geil!

Meier: Ja, letztlich hat alles funktioniert. Durch das einfache Machen.